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Sieg der Realität über das Leben

Tina Satter erzählt in ihrem ersten Feature-Film »Reality« die Geschichte der NSA-Whistleblowerin Reality Winner. Sidney Sweeney verkörpert die Hauptrolle in dem spannenden Kammerspiel, das auf der Berlinale 2023 seine Weltpremiere feierte.

Die Figur Reality Winner (gespielt von Sydney Sweeney aus »White Lotus«) kam Tina Satter vermutlich in mehrerlei Form sehr gelegen. Neben der Bezeichnung für eine junge Durchschnittsfrau – weiß, sportlich, Musikfan, hat einen Hund und eine Katze, lebt gut situiert in Georgia – steht der pompöse Name auch für etwas anderes, das der Film in seinen 85 Minuten exemplarisch darstellt: den Sieg der Realität über das Leben. Man kennt vielleicht das Gefühl, wenn man zufällig einer Person über den Weg läuft, die man zuvor nur aus den Medien kannte. Diese Aufregung, das Gefühl des Surrealen, begleitet von einem Gefühl des Unglaubens, ist es, was sich wie ein roter Faden durch den Film zieht und letztendlich in der Festnahme Winners gipfelt.

Doch das Bild der Durchschnittsfrau gerät von Beginn an ins Wanken. Es sind kleine Trigger, die das Bild des All-American Girl verzerren. Die Sprachwissenschaftlerin Winner arbeitet als Übersetzerin eines Informationsdienstleisters für die NSA. Ihre Sprachen: Farsi, Dari und Paschtu. Sicherlich nicht leicht, und darum erwähnenswert. Bemerkenswert jedoch vor allem, weil bis zum Ende offenbleibt, woher ihr Interesse für diese Sprachen stammt. In ihrem Haus: ein pinkes Maschinengewehr und eine Glock. Auf dem Tisch ein Koran und um ihren Hals eine Kette mit der Hand der Fatima. Auf ihrem Bett eine Pikachu-Decke (das kleine, gelbe Pokémon), an der Wand ein Poster der Emocore-Band AFI. Sie verabscheut Trump und wirbt mit einem Schild an ihrem Haus für das Recht auf Waffen. Es wirkt alles etwas seltsam und widersprüchlich. Ist man mit dem Fall nicht vertraut, steht man vor einem Rätsel.

Die Dialoge dieses als Kammerspiel inszenierten Dramas sind eins zu eins von den Transkriptionen der Tonaufzeichnungen des FBI übernommen. Die Spannung und Intensität entstehen durch die Nahaufnahmen der Gesichter, einerseits der großartig spielenden Sweeney, andererseits des zweiten Hauptakteurs Josh Hamilton. Der spielt einen leicht irre wirkenden, an Jim Carrey erinnernden FBI-Agenten, der sich freundlich und lustig gibt, in seiner Arbeit jedoch knallhart und kühl verfährt. Aber auch die Ungewissheit, was die Gründe für Reality Winners Handeln sind, befeuern etwaige Vermutungen. Und die sich langsam entfaltende Realität, die nicht auf einen Schlag, sondern schleichend und erbarmungslos Einzug in ihr Leben hält – verkörpert durch die Sicherheitsbehörde. »Reality« ist vor allem eine spannende Form, die realen Geschehnisse um die Veröffentlichung vertraulicher Akten bezüglich der möglichen Einmischung Russlands in den US-Wahlkampf dokumentarisch darzustellen. Der Film zeigt aber auch, wie das normale Leben einer unauffälligen Frau wegen einer einzigen unbedachten Aktion tragisch aus dem Ruder laufen kann.

Link: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202308960.html 

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