Die Protagonistin in »Dark Glasses« heißt Diana (Ilenia Pastorelli) und ist als Sexarbeiterin im wohlhabenden Milieu Roms unterwegs. Sie erblindet nach einem missglückten Mordanschlag durch einen Serienmörder, bei dem auch die Eltern des kleinen Buben Chin (Xinyu Zhang) ums Leben kommen. Die beiden finden zueinander und müssen bald vor dem Killer fliehen. Unterstützt werden sie von der Sozialarbeiterin Rita, gespielt von Asia Argento, der Tochter des Regisseurs, die seit den 1990er-Jahren als Stammschauspielerin in seinen Filmen auftritt. Das ungleiche Team gerät in eine blutige, aber kühl reduzierte Nacht-Odyssee durch römische Randbezirke.
Hard-boiled Pulp in Gelb
Dario Argento hat bereits mit seinen ersten Filmen in den frühen 1970er-Jahren standardsetzende Werke der spezifisch italienischen Version des Crime-Genres geschaffen – des sogenannten Giallo-Thrillers. Der Name (giallo = gelb) bezieht sich auf die gelben Umschläge der Kriminalromane des Verlags Mondadori, der englische Detektivgeschichten ins Italienische übersetzte. Als Auftaktfilm gilt Mario Bavas »La ragazza che sapeva troppo« (1963). Einflussgebend waren sowohl die US-amerikanischen Hard-Boiled-Schule um Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett wie auch die deutschen 1960er-Jahre Grusel-Crime-Verfilmungen von Edgar-Wallace-Romanen. Giallo allerdings trieb es von Beginn an bunter, blutiger und stylischer als seine Vorbilder.
Zu den stilprägenden Manierismen zählt eine fetischistische Inszenierung von spezifischen, immer wiederkehrenden Objekten (schwarze Handschuhe, schwarzer Regenmantel, funkelnde Messer) sowie eine teils comichaft überzeichnete, oft stark sexualisierte Darstellung der Ermordung von (zumeist) Frauen. Dazu kommen noch inhaltliche Elemente, die sich immer wieder auf die Themen Zeugenschaft, Erinnerung und Traum – und bei Argento auch auf bildende Kunst – beziehen. Sinnlichkeit und eine entsprechende formale Offenheit stehen allemal über narrativer Stringenz. Wobei Letztere oftmals in Twists und Turns kulminiert – und somit auch dem klassischen Whodunit-Schema von Krimis à la Agatha Christie nacheifert, allerdings mit einer Vorliebe für simplifizierte Psychoanalyse.
Die Hochzeit des klassischen Giallo mag in den 1970er-Jahren gewesen sein, aber sein Geist geht weiterhin um. Das beweist etwa »Insidious«-Regisseur James Wan, dessen letzter Film »Malignant« (2021) eine witzige Horror-Hommage an den Giallo war. Das belgische Regie-Ehepaar Hélène Cattet and Bruno Forzani hat mit »Amer« (2009) und »The Strange Colour of Your Body’s Tears« (2013) zwei wunderbar poetische Aneignungen des Genres vorgelegt. Yann Gonzales betreibt mit seinen Filmen – etwa in »Knife + Heart« (2018) – ein buntes und erotisches Queering des klassischen Giallo. Und der leider früh verstorbene Satoshi Kon hat in seinem brillanten Psychothriller »Perfect Blue« (1997) den Giallo mit japanischem Anime fusioniert.
Kompromissloser Pop-Auteur
Dario Argento hat insbesondere mit seinen als »Tier-Trilogie« bekannten Filmen »Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe« (1970), »Die neunschwänzige Katze« (1971) und »Vier Fliegen auf grauem Samt« (1971) viel zu diesem Stil beigetragen. Spätestens mit »Suspiria« (1977), seinem zweifellos bekanntesten Film, hat er seinem Oeuvre eine Strömung hinzugefügt, die man als Italo-Gothik bezeichnen kann: Lichtgetränkte Grusel-Romantik voll mit halluzinatorischem Surrealismus und viel hellrotem Blut, angelehnt an die literarische gothic fiction der Spätromantik, etwa von Bram Stoker oder Edgar Allan Poe. In »Opera« (1987), einem seiner herausragendsten Werke, verbinden sich diese Linien zu einem barocken und opulenten – eben: opernhaften – Genre-Rausch. Dasselbe gilt für »Phenomena« (1985), wo Giallo-Elemente von einer teils magischen Märchenhandlung getragen werden.
Argento hat sich stets – auf gut Wienerisch – nix gschissn und seinen Stil kompromisslos weiterentwickelt. Das ging nach seinen großen 1980er-Jahre-Werken dann und wann gehörig daneben, aber eben auch nicht immer, wie etwa in »The Stendhal Syndrome« (1996), wo eine junge Polizistin (Asia Argento), die am titelgebenden Syndrom leidet und von Kunstwerken in magische Traumwelten gezogen wird, gegen einen Serienvergewaltiger ermittelt. Hier schaffte es Argento tatsächlich, eine sensible Inszenierung von Trauma mit einer geradezu irrwitzigen Mixtur aus extremer Gewalt (inklusive schriller 1990er-CGI-Effekte) und phantastischen Einschüben stimmig zu verbinden.
Giallo-Reflexion
»Dark Glasses« wird als Rückkehr des Maestros zu seinem Stammfach rezipiert. Und entsprechende Elemente des Giallo-Thrillers sind freilich schnell festgestellt: Ein Frauenmörder oder eine -mörderin (Letzteres ist oftmals der Fall bei Argento) tötet mit schwarzen Lederhandschuhen; eine unschuldige Person wird in das Geschehen hineingezogen und trägt die Handlung; die Morde sind ausgesprochen explizit inszeniert. Andererseits ist »Dark Glasses« aber auch ein überraschend reduzierter Film, dem es an etlichen typischen Giallo-Merkmalen fehlt. So gibt es anstatt gesättigter Farbdramaturgie und entfesselter Kamera diesmal eine unterkühlte Bildsprache. Auch das Ausschlachten von Close-ups auf Augen und Klingen, sowie jene Sexualisierung von Gewalt, für die der Giallo mitunter berühmt ist, sind in »Dark Glasses« reduziert.
Sexualisierte Gewalt war bei Argento immer eingebettet in ein medienreflexives Spiel um das Thema Voyeurismus. Somit muss ihm zumindest bezüglich seiner großen Gialli angerechnet werden, dass er den »male gaze« (Laura Mulvey) – also die Objektivierung von Frauenkörpern durch ein maskulines Blickregime –, qua offensichtlicher Übertreibung stets ironisch ausgestellt und nicht einfach nur reproduziert hat. Das gilt auch für die Inszenierung von phallischen Hieb- und Stichwaffen, die der Filmwissenschaftler Ivo Ritzer als eine »kritische Feier des phallischen Fetisches, die eben seine fetischisierende Wirkung entschleiert«, bezeichnet.
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»Dark Glasses« wirkt wie eine Rückschau auf diese »Feier«, eine Art nächtliche Reflexion. Eine inhaltliche Verschiebung hinsichtlich des Themas Voyeurismus bekräftigt das: Die für den Giallo so wichtige Augenzeugenschaft des*der Protagonist*in fehlt hier; stattdessen wird mit Diana vielmehr ein potenzielles Giallo-Opfer zum handelnden Subjekt – nur eben erblindet. Die Verbindung von Blick und Geheimnis fällt damit vollkommen weg und das Nicht-Sehen der beinahe Ermordeten wird zu einer Art Gegen-Metapher zum exploitativen Close-up-Spektakel. Dabei verschwindet auch die Dimension des Rätsels gänzlich; »Dark Glasses« erfüllt kein spektakuläres Whodunit-Schema. Im Gegensatz zu den küchenpsychologisch eingefärbten Twist-Kaskaden vieler seiner älteren Filme, zeigt Argento diesmal den Irrsinn von gekränkter, gewalttätiger Männlichkeit in seiner Plumpheit und Banalität. Das ist eine verschobene Perspektive, die die Invarianten des Giallo-Stils von Innen befragt. Harte Genre-Kost ist »Dark Glasses« aber trotz aller Reduktion, inklusive trashiger Elemente (Stichwort Würgeschlangen), drastischer Gewaltdarstellungen und einem von treibenden Elektrobeats getragenen Score.
Il Maestro, entschlackt
Es wirkt so, als wollte sich Argento in »Dark Glasses« seiner Mittel aufs präziseste und reduzierteste versichern. Dabei stellt sich die Frage, was von einer solchen Entschlackung bei einem Regisseur gewonnen ist, der Form und Stil stets gegenüber der narrativen Ebene privilegiert hat? Die Antwort fällt ambivalent aus. Als zeitgenössischer Thriller bietet »Dark Glasses« wahrlich nichts Neues und er brilliert auch nicht mit Altbekanntem in neuem Gewand. Weder die Figurenzeichnung (nicht das Argento darauf jemals viel Wert gelegt hätte), noch der simple Thriller-Plot überzeugen so richtig.
Dennoch, Argento behauptet sein sinnliches Nachtkino erneut und versucht sich redlich an einer zeitgemäßen Aktualisierung seiner Handschrift, ohne dabei auf ein Recycling von Erfolgsrezepten zu setzen. Und so funktioniert »Dark Glasses« zumindest als präzise Genre-Reflexion eines Altmeisters.
»Dark Glasses« hatte Weltpremiere auf der 72. Berlinale und Österreichpremiere im Rahmen des SLASH ½ im Wiener Filmcasino. Regulärer Kinostart in Österreich: Juni 2022.