Horrorfilme, die mit jüdischen Themen spielen, gibt es ja derweil wie Sand am Meer. Und irgendwie bieten sich Mystik und die zugehörigen Sagengestalten und diese ganze aufgeladene Kultur auch gut dafür an, angefangen bei »Golem« von 1915 bis hin zu »JeruZalem« hundert Jahre später. Wieso also den Bogen nicht noch weiter spannen und die mystisch-religiösen Narrative in eine ultraorthodoxe jüdische Gemeinde nach New York verfrachten? Nach der Netflix-Erfolgsserie »Unorthodox« hat auch die*der nicht in der jüdischen Kultur bewanderte Zuschauer*in ein mögliches Verständnis für die Ausgangssituation des Protagonisten Yakov (Dave Davis), der als Aussteiger einer orthodoxen Gemeinde in New York versucht, seinem Geist einen Weg heraus aus den streng religiösen Doktrinen und Verhaltensmustern zu bahnen.
Nach einem Treffen mit einer Gruppe anderer Ex-Mitglieder der Gemeinde, die sich zur gegenseitigen Unterstützung beraten, wird Yakov allerdings schicksalshafterweise von seinem früheren Rabbi (Menashe Lustig) eingeholt, der ihn bittet, doch noch ein letztes Mal die Rolle des »Schomers«, eines Totenwächters, einzunehmen. Trotz sichtlichem Widerwillen von Seiten Yakovs lässt sich der junge Mann aus finanziellen Gründen auf den Deal ein und sieht sich im Haus des Verstorbenen und seiner sich ominös verhaltenden Witwe (Lynn Cohen) schon sehr bald mit der unumkehrbaren Vergangenheit des Toten wie seiner eigenen konfrontiert: ein Sujet, das Keith Thomas in seinem Debütfilm leider wiederholt unreflektiert und viel zu verkürzt mit dramatisch verdichteten Schuldkomplexen versieht und bei dem er sich – an der jüdisch-kulturellen Oberfläche kratzend – in einer Hollywood-mäßigen Simplifizierung verläuft.
Der verstellte Blick in die Vergangenheit
Getragen wird der ganze »Horror« des Filmes durch die mystische Figur des jüdischen Dämons Mazik, der – schon den Verstorbenen verfolgend – nun auf Yakov überspringt und ihn zwingt, immer nur zurück auf sein eigenes tragisches Schicksal zu blicken: ein Horror-Momentum, das Thomas durch eine Reihe relativ unaufregender und für Horrorfilm-Kenner*innen nicht überraschender »Jump Scares« und Überblendungen sowie wenig schockierender Animationen in der*dem Zuschauer*in zu erwecken versucht, wobei auch an Klischees nicht gespart wird. Besonders traurig: die Stelle, an der man gefühlt zwei Minuten vorher weiß, dass gleich einer Lampe wie von Geisterhand ein Wackelkontakt widerfährt.
Walter Benjamin nimmt in seinem 1940 erschienen Text »Über den Begriff der Geschichte« im 9. Abschnitt Bezug auf Paul Klees berühmtes Bild »Angelus Novus«. Er beschreibt es als eine Gestalt, die mit Schrecken auf etwas zu starren scheint, von dem sie sich entfernt. Er stellt fest, dass der Engel der Geschichte so aussehen müsse, der Vergangenheit zugewandt. Im Gegensatz zu »uns«, die in der Zukunft eine Kette von Begebenheiten sehen, sieht er bloß die Katastrophe als eine Anhäufung von Trümmern. Aber wegen des Fortschritts in der Gestalt eines Sturms, der vom Paradies her weht, ist er, diesem ausgesetzt, unfähig, einzuschreiten, und wird in Richtung Zukunft getrieben. Ähnlich diesem Gedanken personifiziert allein schon die Rolle des Yakov diese Ambivalenz, die sich, vom Alten losreißen wollend, nach vorne wendet und doch, um das »Böse« schließlich zu bekämpfen, doch wieder zum Ursprung seines religiösen Bekenntnisses zurückkehren muss, um sich dadurch zurückblickend in die Zukunft zu kämpfen.
Speziell problematisch wird die Darstellung von Yakovs Wahrnehmungen dadurch zugespitzt, dass der an (scheinbar) dissoziativen Wahrnehmungsstörungen leidende und durch generelle Unsicherheit gebeutelte Yakov bis zuletzt den Kampf gegen Mazik als einen Kampf gegen seine sich wieder verstärkende psychische Erkrankung betrachtet. Was dabei in Keith Thomas‘ Inszenierung passiert, ist, dass nicht nur der Bezug zur jüdischen Religion (die Symbolkraft klassisch jüdischer Rituale), sondern auch der Bezug zu psychischer Krankheit (der Kampf gegen eine »Rationalität« hinter dem »Wahnsinn«) simplifiziert und so geringfügig dargestellt wird. Denn – Halleluja! – am Ende ist die Rückbesinnung zu seinem eingeprägten religiösen Wissen die Heilung für sein Trauma und nicht eine psychiatrische Behandlung.
Die »Schuldfrage« im jüdischen Kontext
Abseits dieser Bemerkungen muss natürlich herausgestrichen werden, dass die Behandlung des Themas »Schuld« im jüdisch-kulturellen wie jüdisch-religiösen Kontext unheimlich interessant wäre und vielleicht auch im Kontext eines Genrefilms. Jedoch will der Film zu viel gleichzeitig: Die Kombination, sowohl wichtige aktuelle Themen als auch den immer noch bestehenden Antisemitismus oder den Holocaust zu besprechen, gleichzeitig einen tieferen Einblick in die jüdische Kultur zu geben und dann noch ein gruseliger Horror-Film zu sein, war wohl um einen Deut zu viel für Keith Thomas‘ Spielfilmdebüt. Der Horror spielt sich in »The Vigil« bloß mithilfe altbekannter Horrorästhetik an der Oberfläche ab; die Beschränkung auf das mit Erinnerungen und Bildern beladene Haus als Spielort wurde nicht befriedigend ausgenutzt und der Schrecken beläuft sich auf ein simples, hier und da auftauchendes Erschrecken, wenn man vor Langeweile verabsäumte, das Auftauchen der obligaten Billo-Schocker zu berechnen. Dabei wäre es ja auch wahnsinnig interessant, gerade im Horror-Genre, das sich ja gut und gerne religiöser Motive zwecks ihrer Mystik bedient, mal etwas mehr Gegenstrom zu den hunderten christlich angehauchten Horrorfilmen zu geben, die ja auch permanent mit einer anderen Form von Schuld spielen. Doch das muss wohl mit etwas mehr Auslassung und etwas weniger Pathos passieren, denn oft liegt der Horror der Schuld ja gerade dort, wo nichts gezeigt wird.
https://www.youtube.com/watch?v=O8EIEZODKPM
Österreichischer Filmstart ist der 13. August 2020.
Link: https://www.constantinfilm.at/kino/the-vigil-die-totenwache