Zeitlos schön sind die meisten auf Morr erschienenen Alben. Hier eine Auswahl aus den letzten Monaten.
ISAN: »Lamenting Machine«
Tja, Fantasie muss erst beflügelt werden. Das Duo ISAN hilft einem dabei, Gedanken zu spinnen, anlässlich ihrer »Lamenting Machine«. De facto ein Longplayer, der ein irisierendes Blumenmeer an delikatem Hörgenuss und somit Hoffnung offeriert und das Wehklagen über die Schlechtigkeit der Welt beiseite wischt. Also breiten sich zarte, hypnotisierende Melodien in einem intimen Flow aus. Antony Ryan und Robin Saville, die Masterminds hinter ISAN, gelten als Miterfinder von Electronica und haben sich auf ihrem neunten Studioalbum zu echten Feinspitzen entwickelt. Ein Track wie »Ichthyosaur« schiebt mit kräftigen Synthmelodien und hohl wirkenden, perkussiven Rhythmen auch mal mächtig an, doch in Summe liegt der Schlüssel zur Einzigartigkeit im Multi-Layering von warmen Electronica-Sounds und der Kunstfertigkeit, trotz oder gerade wegen gewisser Verschwommen- und Verwaschenheit daraus glückselige Stimmungen zu bauen.
Múm: »Yesterday Was Dramatic – Today Is OK«
Da kommt zupass, dass Morr Music schon lange einen guten Draht zu isländischen Acts hat. Múm sind ebenso Electronica-Pioniere und »Yesterday Was Dramatic – Today Is OK (20th Anniversary Edition)« stellt die Tracks des bezaubernden Debütalbums aus 1999 Remixes sowie Reworks einiger Tracks gegenüber. »The Ballad of The Broken Birdie Recods« versetzen in den Remixes von Ruxpin und Mike Paradinas, der als μ-Ziq »There Is A Number Of Small Things« sinnlich voransetzt, in eine schläfrig-schwermütigere Stimmung als die Originale und Biogen hat sich gar für eine Prog-Variante entschieden. In der recht detailverliebten »Smell of Memory«-Bearbeitung des Kronos Quartet strahlen die Streicher himmlisch-epische Glückseligkeit aus, samt herrlich repetitivem Stringloop. Sonische Wonneschauer vermögen auch Hauschka mit »Random Summer« und Sóley mit der ins Jenseits zielenden »Ballad of The Broken String« auszulösen.
Sin Fang: »Sad Party«
Nahtlos schließt sich das fantastische Werk eines weiteren Isländers an.
Symphonisch elegisches Ausfließen kennzeichnet den Opener »Planet Earth«, opulent ausgepolstert, und dann setzt doch ein Bass mit Drumcomputer ein, um das ganze rhythmisch zu grundieren. So feierlich melancholisch beginnt Sin Fangs »Sad Party«, der dieses Album in einem alten Studio mit Holzmöblierung aufnahm. Danach war Schluss, wie viele Venues wurde dieser magische Ort aufgrund steigender Mieten in Reyjkjavìk den Betreibern zu teuer. Doch Sindri Sigfússon alias Sin Fang legt ins Nostalgische auch einen Neubeginn, wenngleich die Melancholie ein immanenter Faktor ist. Jedenfalls beeindruckt seine »Sad Party« mit recht diversem Songwriting. Funkelnder Dream Pop, IDM-Electronica oder klaviergetriebener Power Pop sind ebenso dabei wie in Psychedelia Ausfransendes. Gemeinsame Klammer: Gleich ob Sin Fang singt oder wunderschöne Instrumentals wie »Cloudjuice« zuwege bringt: seiner Musik wohnt eine bittere Süße inne.
Benoît Pioulard: »Sylva«
Fürs Presseexemplar wäre ein 84-Seiten-Booklet wohl zu teuer. Ohnehin hat der Rezensent wenig Zeit und bündelt daher das schlüssige Konzept. Kranky-Artist Benoît Pioulard, bürgerlich Thomas Meluch, hat Polaroid-SX70-Fotografien von Felsformationen in Wüsten, eigentümlichen Pflanzen und Gewässern etc. zusammengetragen und collagiert dazu auf »Sylva« eine Art impressionistische Musik, die die Besonderheit der Natur mit tagträumerisch schönen Ambient Drones kandiert. Zwei Lieder, die den gemächlichen Flow unterbrechen, unterscheiden sich allerdings in der Struktur. Pioulards hauchzarter Gesang ist einer kleinen Blume namens »Draba« gewidmet und in »Meristem« würdigt der US-Amerikaner mit Piano- und Violinbegleitung seinen vor zwei Jahren verstorbenen Bruder und lässt die Silberscheibe mit ätherischen Harmonium- bzw. Orgelklängen als Ode an die Pracht einer naturnahen Lebensumwelt ausklingen.
Apparat: »Soundtracks – Stay Still«
Morr ist auch Vertrieb, etwa fürs neue Apparat-Album »Soundtracks – Stay Still« (Itʼs Complicated Records). Überraschen tun sie doch, die »Twin Peaks«-esken Surfgitarren, und sogleich saugt der Rezensent diesen Sound, der mit kreiselnd-bohrenden Synths/Keys angereichert wird, begehrlich auf. Sascha Ring aka Apparat hat bereits zwei Scores für Filme des italienischen Regisseurs Mario Martone komponiert, und zwar für »Il giovane favoloso« (über den Schriftsteller Giacomo Leopardi) und »Capri-Revolution«. Jenen für »Stay Still«, eine deutsch-italienische Produktion, in der Elisa Mishto Regie führt, gibt es vorab schon auf Tonträger – der Filmstart musste wegen COVID-19 verschoben werden. Apparat überzeugt mit wohl mehr analogen als programmierten Klängen, insbesondere mit dem schwermütigen Popsong »Bad Kingdom (Luluʼs Version)«, mit bestrickend entrückter Frauenstimme, und lässt Instrumentales episch ausfransen. Beispielsweise den von herzerwärmenden Orgeldrones dominierten Track »Marleneʼs Birthday«.
Spirit Fest: »Mirage Mirage«
Getrost handelt es sich bei Spirit Fest um eine bayrisch-japanische Supergroup. Neben Saya und Ueno, bekannt vom Duo The Tenniscoats, gehören Markus Acher (Notwist-Sänger, Hochzeitskapelle), Mat Fowler (Jam Money and Bons) und Cico Beck (Joasinho, Aloa Input & The Notwist) der Band an. Spirit Fests »Mirage Mirage« gewährt wundersames Verschmelzen von japanisch codierten Melodien mit ersprießlichen Electronica-Beimengungen und nicht wenig Analogem. Keck auch, dass in manchen Songs Japanisch gesungen wird und darauf gleich die englische Bedeutung, wie zum Auftakt-Mantra »Zenbu Honto (Every Thing Is Everything)«. Fernost und Europa fließen derart zu einem ureigenen Soundkosmos zusammen, der gefangen nimmt. Herrlich, wie der Hang zum Experiment und Popharmonien ineinandergreifen. Avant-Pop darf mensch dazu immer noch sagen, wenngleich es sich eher um Popmusik im irgendwie rauschhaft wirkenden Überschwang handelt. Got that summer feeling? Sichtbar auch im grell-bunt-psychedelischen Coverbild: »Mirage« heißt übersetzt ja Trugbild und beim genaueren Betrachten könnt’ einem schwindlig werden. Also lieber in die Musik hineinversenken und einige persönliche Highlights herauspicken. »Time To Pray«, an sich sehr edel, endet in einer rauschhaften Melodica-Distortion. Noch nie so gehört und gleich darauf erfreut »Circle Love« chansonesk, ui, das hat Schwung, und wird mit gedämpften Trompetentönen (Gast Micha Acher) ausgehaucht, mit Funkverkehr-O-Ton-Crash als da capo. »Mohikone« hebt mit spirituellen Vokalisen ab und das Mantra-mäßige »The Snow Falls On Everyone« verliert sich ebenso in psychedelischem Space wie auch »Starry Floor«. Orgel hilf! Wunderhübsch auch das Piano-getragene und Saiten-Synthie-Melodica-fiepende »Honest Bee« klingt wie ein trauriger Abgesang auf das Verschwinden der Bienen-Diversität, doch der anschließende »Swim Swan Song« hat dann wieder mehr Leichtigkeit. Kurzum: Spirit Fest hören macht Freude. Das Quintett ist nicht grundsätzlich auf Melancholie abonniert, sondern bietet ein vielschichtiges, schillerndes Soundspektrum, niedlich, reizvoll, meist mit einem Schuss Psychedelia. Und final dreht sich alles im Kreis: Aiko Okamoto singt mit beim »Saigo Song«, einem speziellen »Ringelreiha«-Lied, das bei genauem Hören letztlich doch ganz schön schwindlig machen kann.
Various Artists: »Mina Miteru – A Compilation Of Japanese Indie Music«
Auf ins Land der aufgehenden Sonne, etwa mit dem wundersamen A-cappella-Song »Merestia« von Nikasoup & Sayasource. Dahinter stecken Kazumi Nikaido und Saya von den Tenniscoats. Letztere hat die Songs für »Mina Miteru – A Compilation Of Japanese Indie Music« in Kollaboration mit Markus Achers Alien Transistor Label und Morr Music ausgewählt. Erweitert kräftig den Hörhorizont und bestätigt, dass in der schrulligen Wunderwelt von Nippons Musiksubkultur alle ihr Herz am Fleck des Niedlichen, des Verträumten und irgendwie Nostalgischen/Melancholischen haben. Mensch höre ihre und Uenos Verwicklungen mit anderen Musiker*innen auf dem Doppelalbum, insbesondere Zayando, für die Saya das weltentrückte, von der Münchner Hochzeitskapelle inspirierte Stück »Hiyodori« schrieb. Jedes Lied, jeder Track ein Juwel und doch ragen einige heraus. Etwa Jun Konagayas »Magnolia«, zum Weinen schön mit Gesang, Orgel und Glocken. Oder Yumbo aus Sendai mit herzzerreißenden Chorälen samt herrlichem Gebläse. Oder der schräge Acid Folk der Lo-Fi-Popband Andersens. Oder das Instrumentaltrio Popo mit Trompeten und Orgel, die wie Flöten klingen. Oder Ichi aus Bristol, der als Multiinstrumentalist auf »Toh Nan Sha Pei« rührselige Klänge mit Kalilaphone, Stilt-Bass und Vocals zaubert. Kommt vom Album »Maru«, vielsagend erschienen auf Sweet Dreams Press, Lost Map Records im Jahr 2016.
Link: www.morrmusic.com