Nachdem schon die Diagonale im März abgebrochen werden und auf eine digitale Version ausweichen musste, hat auch das Crossing Europe Filmfestival Linz schnell auf die außergewöhnliche Situation reagiert und ein digitales Programm zusammengestellt. Das unter dem Namen »Extracts« laufende Programm steht online auf den zwei Streaming-Plattformen Kino VOD Club und Flimmit zum Verleih zur Verfügung und vertritt das Festival dementsprechend repräsentativ für die diesjährige Ausgabe. Die überschaubare Auswahl von zehn Filmen (sechs Spiel- und vier Dokumentarfilme) kann noch bis inklusive 20. Mai angeschaut werden und zeigt einmal mehr die exzellente Kuration des Festivals, auch in schwierigen Zeiten wie diesen.
Spielfilm-Highlights
Wie auch schon in vergangenen Jahren schafft es das Crossing Europe erneut, einen in so unterschiedliche wie erfüllende Welten zu tragen, dass man am Ende gar nicht anders kann, als sich zu fragen, wie viele Nischen es da draußen noch zu erkunden gibt. In »Take me somewhere nice« etwa erzählt Ena Sendijarević die absolut merkwürdige und doch berührende Geschichte der jungen, in den Niederlanden lebenden Alma, die sich auf der Suche nach ihrem kranken Vater auf eine unverhoffte Reise zu ihren Wurzeln nach Bosnien begibt, während ihr unterwegs allerhand Skurrilitäten passieren – die bosnische Version eines Feel-Good-Road-Trip Movies, das doch gleichzeitig mit allen Klischees bricht.
Ein anderer wunderbar erzählter Film, der vor allem durch seine spezielle Perspektive überrascht, ist »Parwareshgah« (»The Orphanage«) vom afghanischen Regisseur Shahrbanoo Sadat, der ebenso Teil der diesjährigen YASS-Jugendschiene des Festivals gewesen wäre. Die Anfang der 1990er-Jahre spielende Geschichte hat im Zentrum ein von Sowjets geführtes Waisenhaus in Kabul, in das der 15-jährige Quodrat unfreiwillig verfrachtet wird. Was den Film so auszeichnet, ist, wie er es schafft, die politischen Begegnungszonen (wie etwa ganz stark bei einer bizarren Russland-Reise der Schulklasse Quodrats gezeigt) realistisch und doch mit viel Fantasie aus den Augen des 15-Jährigen zu beleuchten. So spricht der Film durchaus sehr »dunkle« Themen an und bleibt dabei dennoch locker und sehr amüsant.
Weiters sind in der Schiene der Spielfilme auch der von Belén Funes produzierte Film »La hija de un ladrón« (»A thief’s daughter«), der die Geschichte der Jungmutter Greta erzählt, die eine dysfunktionale Beziehung zu ihrem Vater hegt und dennoch nie wirklich von ihm wegkommt (wobei vor allem die beiden Haupdarsteller*innen – auch im realen Leben Vater und Tochter – besonders mit ihrer Leistung brillieren), sowie der Streifen »L’angle mort« (»Blind Spot«) von Patrick Mario Bernand, der mit seiner Erzählung eines mit der Fähigkeit des Unsichtbarmachens ausgestatteten Mannes eine Antithese zu heutigen Superheld*innen-Filmen leistet und dabei eigentlich über Aspekte der Zwischenmenschlichkeit spricht.
Dokumentar-Schiene
Doch auch auf Seiten des Dokumentarkinos bleibt kein Wunsch offen. Obwohl die Auswahl von vier Filmen möglicherweise etwas knapp erscheint, deckt sie dennoch ein gutes Spektrum an Themenbereichen ab. Besonders erwähnenswert ist dabei der Film »Otan o Wagner sinantise tis ntomates« (»When tomatoes met Wagner«), der eine griechische Produktionsfirma porträtiert, die im Kleinstbetrieb (bestehend aus zwei Cousins aus dem Dorf Elias, die sich mit ein paar älteren Damen des Dorfes zusammentun) versuchen, sich mit ihren ökologisch hergestellten Tomatensaucen einen Weg heraus, auf den großen Weltmarkt zu manövrieren. Die von Mariann Economou unheimlich witzig erzählte Geschichte zeigt nicht nur, dass es wirklich Geschichten gibt, die man sich nicht einmal ausdenken könnte, sondern auch, dass Tomaten unter der Beschallung Richard Wagners gemeinhin besser wachsen als unter traditioneller griechischer Volksmusik!
Am ganz anderen äußeren Rand des Dokumentarfilm-Spektrums erweist »Szabad Egyetem« (»The free university«) von Jonathan Hunter und Lucie Janatová einen wichtigen Beitrag zur derzeitigen politischen Situation Europas. Die Zusammenstückelung von Material, das rund um die Schließung der von George Soros gegründeten Central European University durch die Orbán’sche Regierung im Herbst/Winter 2018 entstanden ist, zeigt den Aktivismus von Studierenden, die sich einen Ort freier Wissensvermittlung und gesellschaftlichen Diskurses nicht nehmen lassen wollen. Die Proteste gegen die willkürlichen Maßnahmen Orbáns entblößen das korrupt agierende Regime der ungarischen Regierung und öffnen die Augen dafür, wie wir – gerade auch in der derzeitigen Situation – immer wachsam dafür bleiben müssen, dass nicht an Grundrechten wie unserer Meinungsfreiheit gerüttelt werden darf.
Weiters ist natürlich auch die Dokumentation »Rotjochies« (»Punks«) von Masja Ooms erwähnenswert, in der die Situation einer Gruppe niederländischer Jugendlicher beschrieben wird, die aus dem System gefallen sind und nun zur Besserung in einem abgelegenen Bauernhof in Frankreich von einer scharfsinnigen Betreuerin beschäftigt werden. Genauso »The sound is innocent« von Johana Ožvold, eine Doku, die sich um die Entwicklungen elektronischer Musik dreht und sich auch mit deren politischen oder philosophischen Perspektiven beschäftigt.
Alles in allem hat Crossing Europe trotz seiner inhaltlichen Verkürzung einen bunten Querschnitt hingelegt, der durchaus einige interessante Filmabende füllen kann. Weiters ist das Festival ebenso bemüht, die »Extracts« im Herbst und Winter im Rahmen zahlreicher Veranstaltungen auch auf die Kinoleinwand zu bringen. Nachdem es durch die derzeitige Lage allerdings schwierig abzuschätzen ist, wann und wo genau, wird es hilfreich sein, die Geschehnisse rund um Crossing Europe 2020 auf dessen Homepage in den nächsten Wochen und Monaten zu verfolgen.