Es ist 20:00 Uhr in der gut gefüllten Halle F der Wiener Stadthalle. Die meisten Besucher*innen haben bereits ihre Plätze eingenommen. Im Bühnenhintergrund ist eine riesige Leinwand installiert, auf die viele kleinere Retro-Fernsehbildschirme projiziert werden, von denen jeder stumm einen anderen Jethro-Tull-Livemitschnitt zeigt. Im Hintergrund läuft bereits die Musik der legendären Band. Um 20:07 Uhr betreten Florian Opahle (E-Gitarre), John O’Hara (Keys, Gesang), David Goodier (E-Bass, Gesang), Scott Hammond (Schlagzeug) und schließlich Ian Anderson (Querflöte, Akustikgitarre, Mundharmonika, Gesang) die Spielfläche.
»The train, it won’t stop going«
Nach dem direkten Einstieg aus »My Sunday Feeling« und »Love Story« begrüßt Anderson sein Publikum: »Thank you very much indeed, good evening and hello – welcome to fifty years of Jethro Tull!« heißt es, bevor Anderson in aller Kürze von den Anfängen der Band erzählt, die auf das Jahr 1968 zurückgehen und sich in ihrem ersten Auftritt im Londoner Marquee Club manifestierten. Der Frontmann schildert, dass Jethro Tull keine gewöhnliche Band, sondern eher ein Kollektiv aus über dreißig Musikern sei, die über die Jahre kamen und gingen. Jeder der heutigen Songs sei mit Bedacht ausgewählt und entweder jemand Speziellem gewidmet oder sich von jemandem gewünscht worden. So wird vor nahezu jedem folgenden Song nach einer Anekdote von Anderson ein Clip abgespielt, in dem stets jemand anderer zu sehen ist, der den jeweiligen Song ankündigt. Als erstes sieht man Jeffrey Hammond-Hammond, der seinerzeit die Band verließ, um Maler zu werden. Er wünscht sich freilich »Songs for Jeffrey«, nur eines der vielen Stücke des »Aqualung«-Albums, die an diesem Abend gespielt werden sollen. Auffällig ist, dass die Performance gesanglich insgesamt zwar deutlich weniger kraftvoll als erhofft ausfällt, instrumental jedoch bei allen Parteien einwandfrei sitzt.
Die erste Hälfte des Konzerts führt weiters über »Some Day the Sun Won’t Shine for You«, »Dharma for One« und »A New Day Yesterday« (im Clip angekündigt von Joe Bonamassa), wobei jeder Song von spannenden Visuals und Lichteffekten begleitet ist. Und obwohl vor Beginn der Show über Leinwandhinweis höflich darum gebeten wurde, das Fotografieren und Filmen via Handy zu unterlassen, können manche Personen beim besten Willen wohl nicht darauf verzichten. Auch dann nicht, wenn sie durch Anderson persönlich nochmals dazu aufgefordert werden: »The light flashes in my eyes and it is very off-putting, please don’t do it.« Schließlich kommt es so weit, dass Anderson sogar während einiger Songs (ohne diese jedoch zu unterbrechen) seine Securities zu sich auf die Bühne winkt, ihnen die Übeltäter*innen im Publikum zeigt und sie daraufhin losschickt, dem Handyspuk ein Ende zu bereiten. Wäre doch nur jede*r Künstler*in so determiniert – viele Konzerte wären wieder ein Genuss wie dieses.
Tony Iommi, der kurz selbst bei Jethro Tull gespielt hatte, bevor er zurück nach Birmingham ging, um Black Sabbath ins Leben zu rufen, kündigt den Song »Bouree« an – zu dem das Publikum ganz ohne Aufforderung anfängt, im Takt mitzuklatschen. Nach »My God«, das Anderson und der Band seinerzeit einige Probleme einhandelte (»They just didn’t read the lyrics properly!«), schickt er das Publikum mit dem Hit »Thick As A Brick« in die fünfzehnminütige Pause.
»No way to slow down«
Die zweite Hälfte wird mit »A Passion Play« eröffnet – angekündigt von Iron Maidens Steve Harris, einem »fan of Jethro Tull’s magical genius for 45 years!« Nach »Too Old To Rock’n’Roll« sorgt »Songs from the Wood« vom gleichnamigen Album für echte Gänsehautmomente. Anderson zelebriert die eigene Musik mit jeder Bewegung, jedoch ohne irgendeine Spur von Arroganz oder Egomanie. Das liebevoll gestaltete Konzept weist keine erkennbaren Lücken auf – der »magnetische Frontmann«, wie ihn skug-Autor Walter Pontis, der Jethro Tull bereits bei ihrem allerersten Wienauftritt gesehen hat, zu beschreiben pflegt, überlegt sich sogar für jeden Song eine neue Abschlusspose, bevor das Licht mit dem letzten Klang erlischt.
Nach »Ring Out, Solstice Bells« (nach Wunsch von Def Leppards Joe Elliott), »Heavy Horses«, dem King-Henry-VIII-Cover »Pastime With Good Company« und »Farm On The Freeway« meldet sich via Videobotschaft nun Slash. Er kündigt »one of the greatest tunes of rock ’n’ roll« an: »Aqualung«. Jedoch handelt es sich heute um eine Version mit modifizierten Lyrics: Statt Truppen befindet sich nun das »Oxford college up the road«, ein Student singt auf der Leinwand über seine scheinbar aussichtslosen Perspektiven. Ein Beweis dafür, dass die Musik von Jethro Tull, ganz im Sinne Andersons, zeitlos ist.
Nach einer ungeahnt agilen Tanzeinlage während des Gitarrensolos (gefolgt von einer selbstverständlichen Trinkpause) verlässt die Band nach dem Beifall die Bühne. Der weitere Verlauf ist kein Geheimnis: Die Musiker erscheinen erneut, spielen ein angereichtertes Intro, Anderson hüpft zurück auf die Bühne, und das legendäre Riff von »Locomotive Breath« setzt ein. Standing Ovations sind das verdiente Ergebnis.
Link: http://jethrotull.com/