Was sind Gemeinsamkeiten des Wanderns und des Musikhörens? Nun, in vielen Fällen erfüllt beides den Wunsch nach Weltflucht. Fühlen wir uns mal wieder von den Übeln des Alltags übermannt, so schnüren wir gerne die Wanderstiefel und versuchen, so etwas wie Naturverbundenheit zu verspüren, oder wir setzen die Kopfhörer auf, geben uns unseren bevorzugten Melodien hin und schotten uns somit von der sonstigen Lärmbelästigung ab. Chan Marshall, besser bekannt als Cat Power, hat diese eine Form des Eskapismus, die Wanderung, mit jener anderen, der Musik, auf ihrem zehnten Album »Wanderer« zusammengeführt.
Allerdings entflieht Marshall der Welt nur scheinbar. In Wirklichkeit bleibt sie ihr zugewandt und arbeitet sich an ihr ab. Zwar ist »Wanderer« ein sehr ruhiger und intimer Mix aus Blues und Folk, der herzlich zum Schwelgen und Abdriften einlädt. So ist die Instrumentierung in weiten Teilen sehr minimalistisch, meist ist nicht mehr zu vernehmen als Piano, Gitarre und Marshalls in Hall getränkter Gesang. Allerdings sind die Lyrics genauso unbefangen und kraftvoll wie stets in Marshalls Karriere, und die hat mittlerweile vor gut 23 Jahren ihren Anfang genommen. Im Kontrast zu den andachtsvollen Kompositionen des Albums versucht Marshall auf der Textebene nicht, den Problemen dieser Welt zu entkommen, sondern dagegenzuhalten. Im herausragenden »In your face« (der Titel spricht bereits für sich) nimmt sie sich jenen Klischeeamerikaner zur Brust, dessen Arroganz und Chauvinismus letztlich zur Parole »America first« führte: »You feel safe, you feel so above / The hunger on the streets / With your safe / And your document in its place / Your money, your gun«. Mit »Woman« wiederum entwirft sie zusammen mit Gastsängerin Lana del Rey eine Gegenidentität, nämlich die einer selbstbestimmten Weiblichkeit, deren Dasein nicht allein der Reproduktion des Patriarchats dient. »I’m a woman of my word / Now you have heard / My word’s the only thing I truly need« singt Marshall, das Tempo zieht an und im nächsten Moment stimmt del Rey, sehr dezent, die Stimme kaum von jener Marshalls unterscheidbar, in den Refrain ein.
Apropos »Now you have heard«: Zur Geschichte dieses Albums gehört auch, dass Marshalls Ex-Label Matador »Wanderer« mit der Begründung ablehnte, es hätte keine Hits vorzuweisen. Im Netz kursierenden Anekdoten zufolge spielten die Verantwortlichen von Matador Marshall einige Nummern von Adele vor, um klarzumachen, wie eine Cat Power doch bitteschön zu musizieren hat. Aber Marshall ließ sich von diesen Strohköpfen der Kulturindustrie nicht nötigen und wechselte zum Label Domino. Eine gute Entscheidung, der wir diese rundum stimmige Platte zu verdanken haben, mit der man dann doch etwas Abstand zu den Abgründen der Vorweihnachtszeit gewinnen kann.