Algorithmen geben uns den Weg vor. Sie sind das Totschlagargument unter den Totschlagargumenten, wenn es darum geht, besonders klug über die digitalen Verhältnisse und deren beschleunigenden Einfluss auf unser aller Leben zu sprechen. Denn Algorithmen sind nicht nur sauschnell und dabei unheimlich unsichtbar, sondern letztendlich auch oder gerade wegen ihrer einigermaßen schwer zu beschreibenden Topologie ein, nicht zuletzt auch für den Autor dieser Zeilen, märchenhaftes Missverständnis. Dementsprechend kryptisch will uns das Thema verkauft werden. Steuern die Algorithmen unser Leben? Treffen sie unsere Entscheidungen, wenn wir auf Netflix ob der überbordenden Auswahl just nicht mehr weiterwissen sollten? Kaufen sie bei Amazon und Billa für uns ein? Oder schlimmer: flüstern sie uns ins Ohr, was wir dort einkaufen sollen, weil sie uns inzwischen besser kennen als wir selbst?
Algorithmen erzeugen so etwas wie gläserne Toilettentüren. Nicht, weil man so erpicht darauf wäre, bei anderweitigen Geschäftitäten hinsehen zu wollen. Aber allein die Tatsache, dass es als eine von vielen Möglichkeiten plausibel erscheint, sollte auch den am exhibitionistischsten veranlagten Wesen zu denken geben. (Stichwort Überwachung!) Die Sache ist trotz allem ziemlich komplex. Glücklicherweise muss man aber keine diplomierte Computerfachfrau sein, um zu verstehen, dass wir mit unserem – ach so privaten – Internetverhalten einige (viele) Fantastrilliarden an unterschiedlichen Informationen über uns und unser Umfeld erzeugen. Allein: Diese Informationen, von Eingeweihten der Szene auch gerne einmal als Daten beschrieben, sind und bleiben für uns eine nicht wahrnehmbare Abstraktion der Dinge.
Platz nehmen in der Entropie
Darum ist es durchaus zu begrüßen, wenn sich jemand dieses Problems annimmt und die wissenschaftliche Expertise endlich sichtbar, hörbar, ja, erfahrbar macht! In jedem Fall ist man hier gut beraten, auf Ryōji Ikeda zu setzen. Der gebürtige Japaner und Kleinstteilchenfanatiker bedient seit über zwei Jahrzehnten die akustische Schnittstelle zwischen angewandter Physik in Klang- und Videokunst, seine Live-Performances oszillieren zwischen einem kaskadierenden Rauschen aus Einsen und Nullen und der optischen Belastbarkeit unserer selbst. Für die Wiener Festwochen bringt er nun seine prämierte Installation »micro | macro« in die Halle E des Museumsquartiers. Zwei saalfüllende Projektionsflächen (raumgreifend vertikal an der Rückwand, flächendeckend horizontal begehbar am Boden) dienen als sinnbildlicher Rahmen für jene unaufhaltsamen Zahlenströme, die unser Leben so (un)kontrollierbar erscheinen lassen.
Wir nehmen Platz in der Infosphäre. Immer schneller werdende Reihen an Datenmaterialien rauschen unablässig an uns vorbei, lassen uns – stehend oder liegend – Teil von ihnen werden. Ein immersives Erlebnis in einer augenscheinlichen Entropie, die doch gänzlich rationalen Regeln folgt und von den klanglichen Idealen des japanischen Künstlers profitiert. Ikeda, inspiriert von einem Aufenthalt am Genfer CERN, stellt nämlich die richtige und wichtige Frage: Wie stellen wir uns die Datenwelt vor? Muss sie einer ästhetischen, menschgemachten Vorstellung genügen, um als solche wahrgenommen zu werden? Was stellt sich der Mensch überhaupt unter Daten vor? Er bietet dafür eine – seine ganz persönliche – Antwort und versteht es, die Kluft zwischen theoretischem Verständnis und menschlicher Erfahrung durch künstlerische Vorstellungskraft zu überbrücken. Von kleinsten Teilchen zum ungreifbaren Ganzen. Schließlich wissen wir etwas, das wir nicht absolut darstellen können, während wir gleichzeitig etwas darstellen, das wir uns nicht vorstellen können.
micro | macro wird noch bis 17. Juni 2018 täglich ab 16:00 Uhr in der Halle E des Wiener Museumsquartiers präsentiert. Karten sind ab 23. Mai 2018 an den Tageskassen der Wiener Festwochen erhältlich.