»Spot the Difference« ist ein Album voll überraschender Abzweigungen und erfreulicher Widersprüche. Lorenz O’Tool, der seine Musikerkarriere mit der Band Chuckamuck antrat und daraufhin als Bassist, Gitarrist und Sänger der Berliner Punkband Die Verlierer bestellt wurde, formte Balcony’s Paradise im Jahr 2019 mit dem Australier Jeremy Tayler. Das selbstbetitelte Debüt nahmen sie in Victoria auf. Für das Folgealbum, erschienen auf dem Berliner Label Bretford Records, besuchte O’Tool Tayler erneut.
Die beiden Freunde schaffen sich mit Balcony’s Paradise Raum für einen ganz persönlichen musikalischen Ausdruck. Dieser wendet sich ab von Konventionen und vorgefertigten Wegen und bahnt sich seine eigenen Trampelpfade durch spontane, rohe und ehrliche Emotionen – im Hintergrund das obligatorische Rauschen von Aufnahmen, die zwischen Kaffeetassen und im Sonnenlicht fliegenden Staubflusen entstehen. Um dem Querfeldein dieses Werkes folgen zu können, wird es mitgenommen auf eine kleine Wanderung …
Just sit
»Ich geh kurz spazieren, muss noch ein Album hören«, sage ich und trete hinaus auf den Hof. Über einen schmalen Schotterweg erreiche ich die lange Straße, die zum Feld führt, vorbei an alten Landhäusern mit wild bewachsenen Gärten. Grundstücke, die gekauft wurden, als man es sich noch leisten konnte. Ein Bauernhof, eine Scheune, ein Schäferhund, dann lange Zeit nichts. Leichter Wind zieht vorbei. In meinen Ohren tropft es. Es tropft und es rauscht.
Ich schaue in den grauen Himmel und sehe ein Flugzeug in der dichten Wolkendecke verschwinden, doch als es von ihr verschluckt wird, rauscht es noch immer. Und dann das hektische Ticken einer Uhr. Ich gehe an einem alten Mann vorbei und er sagt »hallo«, ich sage »hallo«, Lorenz O’Tool sagt »hallo« und ich erschrecke kurz, ehe dumpfe Drums und melodische Gitarre einsetzen.
Verzerrte Stimmen sprechen zu mir wie Außerirdische, wollen, dass ich mich hinsetze, doch ich gehe weiter und erreiche das Feld. Der Himmel blendet hellgrau und schwer, zu beiden Seiten ein ewiges Meer aus duftenden Rapsblüten, in der Ferne ein paar Bäume. Die Stimme in meinem Kopf wird behutsam, singt sanft im langsamen, minimalistischen Takt und macht Pausen, von denen man nicht ahnt, wie lange sie andauern. »Hollow Diary« läutet dieses Album auf dieselbe unberechenbare Weise ein, die es bis zum Schluss beibehalten wird.
It’s just a joke
Während »Time After Time« anspielt, kommt mir ein altes Paar mit seinem Bobtail entgegen. Die Frau sieht ihrem Mann ähnlich und der Mann ihrem Hund. Sie grüßen freundlich, weil in diesem Ort jede*r freundlich grüßt, und ich grüße freundlich zurück. Etwas eingerostet, weil ich Grüßen nicht mehr gewohnt bin. Sie sehen aus wie Menschen, die auch freundlich schauen, wenn niemand auf sie zugeht. »You’ve kept my love so young, so new«, die einzigen Worte, die am Ende einer sachten Gitarrenmelodie ertönen, verzerrt und nah.
Beim dritten Song, einem Cover von Jeff Clarke (dessen letztes Album »Locust« ebenfalls bei Bretford veröffentlicht wurde), erreiche ich das kleine Waldstück. An seinem Anfang stehen Sträucher, an denen Beeren wachsen, deren Namen ich nicht kenne. Sie verschwimmen im Gestrüpp. Ich bereue es, meine Brille nicht aufgesetzt zu haben. Allerdings passt ein Lo-Fi-Blick vielleicht auch gut zu einem Lo-Fi-Album. Der Weg liegt nun im Schatten der Bäume, die hoch zu seinen beiden Seiten stehen. Er ist noch feucht vom Regen und gesprenkelt vom ersten Laub. Eigentlich ist der Boden hier immer voll von Nacktschnecken, doch heute entdecke ich keine einzige. Nur ein paar Pilze am Wegesrand, die ich fotografiere.
Balcony’s Paradise Version von »Weird Ways« ist eine verlangsamte. Die Lyrics sind ebenso verzerrt wie auf den bisherigen Songs, und im Gegensatz zu Clarke, der nur über einer Akustikgitarre singt, addieren O’Tool und Tayler weiche Drums. Diese Interpretation erinnert mich an etwas, doch ich will es nicht aufschreiben. Weil es auch ein Lo-Fi-Album geben muss, das ohne den Daniel-Johnston-Vergleich bestehen kann.
Take me to the place before it’s gone
Während der namensgebende Titel des Albums »Spot the Difference« allein von einer Akustikgitarre geführt wird, gesellen sich auf »Fishing Next to the Lilies« ein zurückhaltendes Saxofon, gespielt von Philipp Gropper, und später auch helle Pianotöne zur Melodie. Ich biege ab, hinaus aus dem Wald und zurück auf das Feld. Der plötzlich so weite Blick, die blendende Helligkeit überraschen mich, obwohl ich doch mit ihnen großgeworden bin. Ich bleibe stehen an der Kreuzung, die großen, sattgrünen Bäume im Rücken, unendliches Flachland zu meinen Füßen. Hier kein Raps mehr. Was immer da wächst, wurde schon geerntet oder ist noch nicht gesprossen.
Ich muss mich wieder daran gewöhnen, so weit in die Ferne schauen zu können. Wie ich mich auch daran gewöhnen muss, fremden Menschen im Vorbeigehen hallo zu sagen. Ich schaue in die Ferne und fühle mich unbeholfen, weil zwischen ihr und mir so viel steht. Als würde man nach vielen Jahren eine*n Bekannte*n wiedersehen und nicht wissen, worüber man sprechen soll. »Take me to the place where I belong / And I don’t mean the place where I was born«.
Aber mein Unbehagen ist nur von kurzer Dauer. Die beschwingenden Klänge von »Alone in the Crowd« helfen mir, mich zu fangen. Auf dem tanzbaren, vergleichsweise schnellen Takt wird die Akustikgitarre das erste Mal von einer elektrischen abgelöst. Die Stimmen sind weniger verzerrt, dafür mehrspurig aufeinandergelegt. Irgendwie seltsam, doch das Mehr in den Ohren verstärkt das Gefühl, allein in der Menge zu stehen.
Something not in tune
Ich gehe den Feldweg entlang bis zur kleinen Baumschule, an der ein paar wenige Bäume in sorgfältigen Rastern vor- und nebeneinander stehen. Am Weg eine Holzbank, die auf die niedrigen Pflanzen gerichtet ist. Ich habe Lust, für einen Song zu verweilen, und nehme Platz. Mit dem Cover von TV Personalities’ »Silly Girl« erwische ich jedoch ausgerechnet den Song des Albums, der sich mit am wenigsten eignet, um besonnen ins Grüne zu schauen. Der Nachfolger »But Of Course«, in der Originalversion von M.O.T.O., fügt sich durch seine lieblichen Klänge schon besser in den Ausblick.
Plötzlich schwingt das Wetter um. Ein beißender Zug dringt durch meine dünne Jacke, ich schlinge die Arme fest um mich und mache mich zu einer Kugel. Zeit für den Rückweg. Ich lasse die Holzbank hinter mir und stapfe mit verschränkten Armen und gekrümmtem Rücken durch den Gegenwind. Ebenso wie das stürmische Herbstwetter überrascht auch »Spot the Difference« mit unberechenbaren Ausbrüchen. Was als unaufdringlicher Wegbegleiter mit besänftigend wispernden Timbre angefangen hat, entwickelt sich in seinem Verlauf zu einem Album, das von unverhohlenen Punknummern gespickt ist.
Auf »Love Longing«, einem untypisch rotzigen Liebeslied, äußert das Duo Gefühle der Sehnsucht und inneren Zerrissenheit. Dem repetitiven Zeilenmuster bricht eine melodische Frage am Ende aus: »Why should a douche do a song for you?« – viel unbefangener kann man Zuneigung wohl kaum ausdrücken.
The moon is for you
Um dem rücksichtslosen Wind zu entkommen, der mir vom Feldweg zu meinen Füßen ins Gesicht schlägt, biege ich früher als sonst zurück in den Wald ein. Es ist ein Weg, den ich noch nie gegangen bin. Versteckt von hohen Gräsern und störrischen Zweigen, die sich an den Stoff meiner Jacke krallen, während ich mich an ihnen vorbeischieben will. Als würden sie sagen: »Hier darfst du nicht lang«.
Nachdem ich mich endlich gegen sie durchsetzen kann, finde ich mich zwischen hohen Bäumen wieder. Unter grünen Laubdecken, die den Blick gen Himmel verhängen, und auf weichem Untergrund, der noch nicht so festgetreten wurde wie in anderen Teilen des Waldes. In meinem Kopf hauchen die sphärischen Klänge von »Afternoon«, während ich versuche, mich zurechtzufinden und die Richtung anzutreten, aus der ich gekommen bin. Meine Glieder können sich wieder entspannen, denn hier kommt der Wind nicht rein. An moosbedeckten Baumstämmen halte ich mich fest, um nicht im Matsch auszurutschen.
Ich höre auf behutsame E-Gitarren, die sich eng verweben mit dem Gesang weniger Silben. Ich höre Lichtungen hoher Töne in verschlungenen Melodien. Schwermütige Echos und tiefe Atemzüge, die mich durch das undurchsichtige Dickicht tragen und mir den Weg weisen, der unter meinen Sohlen nachgibt. Ich höre »Afternoon« wieder und wieder und wieder, bis der Boden unter meinen Füßen Halt bietet und ich durch den letzten Strauch hindurch mitten im Rapsfeld stehe. Ich habe einen Lieblingssong.
You walk on me
In großen Schritten stapfe ich durch den Raps. Mit Dreck an den Stiefeln und gelben Blüten, die mich übersäen, treiben die hedonistischen Klänge von »One Of These Nights« mich voran. Der Trotz in O’Tools Stimme, die von Verlangen und Fehltritten singt, wirkt ansteckend. Wie bereits »Love Longing« ist auch »One Of These Nights« ein Liebeslied, das von Verzweiflung und Unvernunft nährt. Diesmal begünstigt die Mehrspurigkeit der Stimme nicht die Einsamkeit, sondern das gegenseitige Verständnis zwischen Interpreten und Zuhörenden. Die unklugen Entscheidungen der Vergangenheit sind nicht mehr allein zu tragen, sie werden in kollektivem Bewusstsein für das geehrt, wofür man sie überhaupt trifft.
Ich erreiche den Asphalt, werde angezählt, »eins, zwo, drei, vier«, und renne los. Die letzten Meter mit »College Knowledge«, ein finales Ausdauern vor der Stille, der Kreis schließt sich in schwindelerregenden Spiralen und endet im Sprint. Schäferhund, Scheune, Bauernhof, die Luft bleibt weg, der Takt feuert an, Outro, ich bin zuhause.











