»Meine Mutter holt mich um sieben Uhr ab«, strahlt der kleine Blonde in die Kamera. »Wie schaut es bei dir zu Hause aus?«, fragt die Frau hinter der Kamera. »Zu Hause? Ich weiß nicht, ich war noch nie da.« In Folge wuchern dem Jungen seine Wünsche zeichnerisch ins Bild – »ein Hund, der nie bellt, ein gutmütiger Löwe und eine Eule«. Eine Pilotenbrille überlagert sein Gesicht. Dokumentarische Interviews mit Kindern in einem russischen Waisenhaus wurden mit zeichnerischen Mitteln überlagert und bespielt. Farblich verändert, die Imaginationen der Kinder verbildlicht. »Kouzelnici/Wizards« heißt der Trickfilm von Yana Shevchenko aus Tschechien. »Eltern dürfen nicht trinken«, sagt ein anderer Junge mit einem realen blau geschlagenen Auge, anschließend verwandelt er sich zeichnerisch hoffnungsfroh in sein Berufsbild – den Mann, der er in Zukunft sein wird.
Russland hat die zweithöchste Anzahl an Waisenkindern, steht im Abspann.
»Kouzelnici«, R.: Yana Shevchenko
Perspektivenwechsel
Bei der Vorschau auf das »Tricky Women«-Festival Mitte März fällt die enorme Unterschiedlichkeit der präsentierten Zeichentrickfilme auf, jeder Film ist ganz eigen und ein kleines Universum. Viel rot, einfach gezeichnet: Im japanischen »Gyro« (Madoka, 2014) gibt es ein Kind, das genüsslich raucht und eine Art Seeungeheuer, aus einer Art Schlauch, das ein Auge ist. Wackelige Perspektiven, seltsames Leben an einem See, Rätselbilder, Bilderrätsel, fröhliche Musik – man könnte seekrank werden. Es wird nichts erklärt, es ergibt sich kein Sinn. Ein rauchender Elefant, Raucherringe, ein kochender Teekessel – und aus.
In »The Bigger Picture« aus Großbritannien sind es lebensgroße, animierte Figuren, die das Dilemma schildern, eine Mutter bis in den Tod zu pflegen. »It will go on and on and I’ll be old«, seufzt ein Bruder, dessen Rollkragen grau in grau in sein Gesicht übergeht. Mit dem Staubsauger saugt er die ganze Wohnungseinrichtung ein. Neuer Tag, neues Leben. Buntes Splitter-Puzzle an der Wand, das kommt und vergeht. »This is not a competition«, ermahnt die Mutter die Brüder. Dann ist sie tot. »What are you looking on?« – »Death«. Lachen. Schulterzucken. »We’ll better get on …« Die Musik ist sehr wichtig für die Atmosphäre der gezeichneten Welten und leider steht nirgends, wer die Musik produziert hat. Oder winzigklein im Abspann, trotz Weitsicht-Brille nicht zu lesen im dank altem Holzinterieur wunderschönen Metro Kinokulturhaus.
Buchstabenblöcke
»Bla« (Martina Meštrovic, Zagreb) geht wieder einen völlig anderen Zeichenweg: Buchstaben, Papierflugzeuge, eine riesendicke Lehrerin, aus deren Mund »blablabla« strömt. Wandernde, sich bewegende Buchstaben! Blöcke von »Blablas«, die sich formieren. Luftballone voller Blas, die Buchstaben einziehen, alles schwarzweiß gezeichnet, sehr fein, sehr strichliert. Es erinnert an den Zustand bevor man lesen kann, und sich in einer Welt voller Buchstaben wundert, was diese Riesen- krähfüße auf der Straße alle zu bedeuten haben. Hochhäuser mit Leuchttafeln mit blinkenden »Blas« obendrauf.
»Bla«, R.: Martina Meštrovic
Man könnte glauben, das Tricky Women Festival hätte heuer einen speziellen Kinder-Schwerpunkt, aber dem ist nicht so, wie Organisatorin Waltraud Grausgruber später feststellt. Jedenfalls: Unter dem Motto »Vom Innen und Außen« beschäftigt sich das Festival »so intensiv wie nie mit dem Thema Psyche. Wie gehen wir mit Ängsten und Phobien um? Wie lässt sich Unbewusstes visualisieren?« (Pressetext). Dazu passt auch der Auftritt von Ana Threat im Elektro Gönner und ihr Programm »Exotika Garage Punk« mit leuchtenden Glühbirnen am Samstag, 14. März.
Zeichnerische Philosophien
Innere Seelenzustände gewandelt in Optik: Wir Menschen bestehen zu 75 Prozent aus Wasser. Welt- raum in lila, ein roter nackter Mann, schlammiger Gatsch, Fledermäuse – »Half Wet« von Sophie Gate aus Großbritannien dreht sich um die Auswirkungen des Wasseranteils im Menschen. Wasser zu Wasser, verflüchtigt sich, verdunstet, erfüllt, belebt. Viel rosafleischfarbene Leiber vor rötlichen Himmeln auf einer ansonsten leeren Erde, einem erdigen Planeten ohne Städte und Meere. In einer Qualle befinden sich sogar neunzig Prozent Wasser und im Menschen wohl auch zwei Prozent Quallen bei dem hohen Wasseranteil. Schön sind die hölzernen Balkone im Metro Kino, im Dunkel seitlich vor den wechselnden, gezeichneten Welten. »Alles sieht unter Wasser besser aus, besonders Fische«, tönt es von der Leinwand. »Ein Fisch schwimmt im Wasser, als ein nasser, als ein nasser«, hieß es in einem Minimal Music-Lied der 1980er Jahre …
Am Abend lese ich in »Das Geheimherz der Uhr« von Elias Canetti, wie Karl Kraus ihn austrocknete. Trockene Jahre, die ihm am Ende seines Lebens abgehen. »An Karl Kraus verdorrt. Alle Zeit, die ich nicht mehr habe, für ihn verwendet.« Canetti war sich seines Wasseranteils bewusst.
Tricky Women – International Animation Filmfestival Vienna
11.-15. März 2015, Metro Kino Wien + div. andere Locations