wandelweiser im burgenland 2001
ZWEITES EREIGNIS
samstag, 7. juli,
friedrichshof römerstraße 2, 2424 zurndorf
12.00-17.00 uhr calme étendue (spinoza) [antoine beuger] antoine beuger sprechstimme
20.30 uhr »der bäume vier – auf abgelegnem feld« aus: landscapes of absence (2) [antoine beuger] text: emily dickinson antoine beuger __ flöte sylvia alexandra schimag __ sprechstimme
Im Mittelpunkt des zweiten wandelweiser-Ereignisses steht Antoine Beuger, Mitbegründer der Edition wandelweiser.
Antoine Beuger, Komponist der extremen Reduktion, beschreibt seine Musik als Musik nach dem Ereignis 4’33“, mit dem John Cage gezeigt hat, dass es »Stille« eigentlich nicht gibt. Für Beuger stellt sich die Welt als unendliches Rauschen dar, als eine Überfülle von Differenzen, eine nie entwirrbare Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit.
Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist in diesem Rauschen enthalten. Sie wird aus der chaotischen Materie herausgeschnitten, wobei die Schnitte Namen haben: Barock, Klassik, Romantik, … oder Händel, Debussy, La Monte Young … oder früher Boulez, später Nono usw. Der Schnitt produziert etwas, das zwar immer schon enthalten war, das es aber so noch nicht gab.
In 4’33“ etwa definiert er sich als bloße Zeitangabe, als Dauer. Die Kompositionen Beugers präsentieren sich direkt als Ausschnitt aus dem unendlichen Rauschen, nämlich der Ausschnitt, in dem wir uns während der Aufführung des Stückes gerade befinden. Sie sensibilisieren uns für unsere Umgebung und erheben auch die Geräusche dieser Umgebung zum Ereignis.
In ihrer reduzierten, minimalistischen Klangsprache, im ruhigen Wechsel von Klang und Stille gestalten und musikalisieren sie die Zeit selbst.
Die Stücke
Eine Gesamtaufführung von »calme étendue – ausgedehnte Stille« – würde etwa 180 Stunden dauern. Auf dem Friedrichshof wird ein fünfstündiger Abschnitt ausgeführt. Der holländische Philosoph Baruch (Benedictus) de Spinoza (1632 – 1677) war von Descartes, der Scholastik und Mystik beeinflusst. Er galt als Atheist und wurde 1656 wegen »schrecklicher Irrlehren« aus der jüdischen Religionsgemeinde ausgestoßen.
In seiner erst 1677 erschienenen »Ethica ordine geometrico demostrata« entwickelte er eine pantheistische Metaphysik und Anthropologie nach geometrischen Beweisverfahren. Sein Einfluss auf die deutsche Philosophie bis in die Neuzeit ist beträchtlich, insbesondere auf Lessing, Goethe, Schelling, den frühen Fichte und Hegel.
Bei meinem Versuch, mich der »Ethik« von Spinoza musikalisch anzunähern, habe ich – als einen ersten Schritt – alle einsilbigen Wörter dieses Buches in der Reihenfolge ihres Auftretens abgeschrieben. Es sind etwa 40.000 Wörter. Diese Methode hat es mir ermöglicht, den Text von Anfang bis zum Ende ganz aufmerksam und sorgfältig zu lesen und, ohne ihn in allen Einzelheiten genau verstehen zu wollen, seine Kraft, die Vielheit der »Strömungen«, die in ihm am Werk sind, und die klare und bejahende Lebenshaltung, die er vermittelt, zu erleben. In »calme étendue« (spinoza) werden die Wörter in einem ganz ruhigen Tempo alle acht Sekunden ein Wort) mit ruhiger Stimme gelesen, ohne durch Betonung oder Intonation auf einen Wortsinn oder einen Sinnzusammenhang zwischen den Wörtern hindeuten zu wollen. Es wechseln sich Phasen des Sprechens mit Phasen der Stille ab. In diesen stillen Phasen sitzt der Ausführende ruhig da und macht nichts: ruhig konzentriertes Verweilen.
(Antoine Beuger)
»Der Bäume vier – auf abgelegnem Feld«
Eine Stimme die fast nicht da ist. Klänge fast ohne Klang. Landschaften der Abwesenheit. landscapes of absence (2) ist eine Reihe von voraussichtlich etwa 15 Stücken, denen jeweils ein Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson zugrunde liegt. Jedes dieser Stücke ist geschrieben für eine Sprechstimme und ein Instrument und dauert 100 Minuten. Sie können einzeln, aber auch gleichzeitig ausgeführt werden.
Bislang sind entstanden: »ein einz’ger Vogel um halb vier« für Sprechstimme und Klavier, »Im Frühling gibt’s ein Licht« für Sprechstimme und Violoncello, »Der Bäume vier – auf abgelegnem Feld« für Sprechstimme und Flöte, »An manchen unbeschriebnen Orten« für Sprechstimme und Marimba, »Es ist einsame Lust« für Sprechstimme und Viola oder Violoncello sowie »Bild aus Licht, adieu« für Sprechstimme und (Bass-)Klarinette.
Emily Dickinson wurde 1830 in Amherst, Massachusetts, geboren und wuchs in puritanischen Verhältnissen auf. Mit 30 zog sie sich gänzlich vom gesellschaftlichen Leben zurück und verbrachte die Jahre bis zu ihrem Tod 1886 auf dem Familiensitz in Amherst. In dieser Zeit entwickelte sie ihren individuellen Stil, der genaue Naturbeschreibungen mit nahezu mystisch-ekstatischer Gedankenwelt vermischt. Emily Dickinsons originäre Sprache weist bereits auf die Dichtung der Moderne. Ihr exzentrisches Verständnis der Begriffspaare Innen/Außen oder Privat/Öffentlich ist auch keinesfalls von Phobie bestimmt, sondern entspricht ihrer »Poetisierung des Raumes« (Diana Fuss).
Four Trees — upon a solitary Acre –
Without Design
Or Order, or Apparent Action — Maintain –
The Sun — upon a Morning meets them –
The Wind –
No nearer Neighbor — have they –
But God –
The Acre gives them — Place –
They — Him — Attention of Passer by –
Of Shadow, or of Squirrel, haply –
Or Boy –
What Deed is Theirs unto the General Nature –
What Plan
They severally — retard — or further –
Unknown –
(Emily Dickinson, ca. 1863)
Der Bäume vier – auf abgelegnem Feld –
Kein Ziel, Entwurf
Noch Ordnung, oder offenkundge Tat –
Bestehn
Die Sonne – eines Morgens trifft sie –
Der Wind –
Keinen näheren Nachbarn – haben sie –
Als Gott
Das Feld gibt ihnen – Raum –
Sie – ihm – Beachtung vom Passanten –
Vom Schatten, Eichhorn, etwa –
oder Knabe
Was tragen sie zum Weltall bei –
Welchen Plan
Jeder einzelne – hemmt – oder fördert –
wer weiss?
(Übersetzung: Edith Kloss)
Zu den Ausführenden
Antoine Beuger
1955 geb. in Oosterhout/NL
1973-78 Kompositionsstudium bei Ton de Leeuw am Sweelinck Conservatorium, Amsterdam
mehrere internationale Preise, u.a. beim X. Internationalen Kompositionsseminar Boswil/Schweiz (1991), beim Forum Junger Komponisten des WDR, Köln (1992) und beim 6th International Kazimierz Serocki Composers Competition, Warschau (1998)
1992 gründete er zusammen mit Burkhard Schlothauer die Edition Wandelweiser
künstlerischer Leiter der Edition Wandelweiser Records
seit 1994 konzipiert und organisiert er die Konzertreihe KLANGRAUM im Düsseldorfer Kunstraum
1995 gründete er zusammen mit dem bildenden Künstler Mauser den Werkraum Ürdinger Straße 11 in Köln, einen Ort für interdisziplinäre Veranstaltungen zwischen Bildender Kunst, Musik, Literatur und Tanz
seit 1996 Lehrbeauftragter der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf
1995 und 1997 wurden bei den Donaueschinger Musiktagen Werke von ihm uraufgeführt
Mehr Info sowie eine Werkliste sind auf der Homepage von Edition Wandelweiser Records zu finden (unter anderem gibt es jetzt auch eine CD mit einer 70minütigen Fassung des Spinoza-Stückes).
Sylvia Alexandra Schimag
geboren 1960
ist seit 1995 mehrfach als Sprecherin und Performerin an Aufführungen des Wandelweiser Komponisten Ensemble beteiligt