Der Jerusalemer Stadtteil Me’a She’arim ist bekannt für seine ultraorthodoxen jüdischen Bewohner*innen, die Haredim. Der Schriftsteller Tuvia Tenenbom kehrte nach fast 40 Jahren zurück in diese Welt, in die er hineingeboren wurde und aus der er geflohen war, um für einige Monate erneut sein altes Leben zu leben. Dabei entstand sein Buch »Gott spricht Jiddisch« und die gleichnamige Dokumentation, für die er Jüd*innen mit ihrem Glauben und ihrer Identität konfrontierte und aufschlussreiche Gespräche, witzige, immer äußerst herzliche Situationen evozierte. Das liegt vor allem an Tenenboms Menschenliebe und seinem großen Interesse an den interviewten Figuren. Auch seine nicht ganz unwitzige Erscheinung gibt den Szenen mit den um Worte ringenden und sich oft selbst widersprechenden, kauzigen Gesprächspartner*innen eine heitere Atmosphäre – bei aller Rückwärtsgewandtheit der Protagonist*innen.
Düster beginnt die Dokumentation, als Tenenbom durch Zufall mit einem anonym bleibenden Menschen spricht, der ihm von jahrelanger regelmäßiger Vergewaltigung in seiner Gemeinde durch den Rebbe berichtet, die ihn schlussendlich vom Glauben abfallen ließ. Gefolgt von den wütenden Ausführungen eines weiteren Israelis, der die Haredim als die größte Gefahr für die jüdischen Menschen erachtet. Dabei spricht er deren hohe Geburtenrate (im Schnitt sieben Kinder) an sowie die Ablehnung einer starken, offenen Nation, die für den Schutz der Menschen in Israel überlebensnotwendig ist. Es folgen mehrere Gespräche mit unterschiedlichen, sehr eigenwilligen Persönlichkeiten. Was sie eint, ist ihre Orthodoxie, doch alle haben auch irgendwie eine andere Sicht auf die Dinge, erklären ihre teils bizarren Ansichten und Traditionen auf Grundlage dieser oder jener Quellen in der Tora. Beispielsweise existieren verschiedene Geschichten über die Herkunft des Schtreimels, eines extrem teuren, handgefertigten Zobelhuts. Oder man kommt in den fraglichen Genuss, Leuten dabei zuzusehen, wie sie zur Vergebung ihrer Sünden ein Huhn wie einen Helikopter über dem Kopf rotieren lassen.
Tenenboms sympathische, schlaue Art in Verbindung mit der Diskussionsfreude seiner Gegenüber ist es, die dazu führt, dass sich die starren, erzkonservativen Ansichten – beispielsweise bei Gesprächen über das Wesen der Juden, über den Schabbat usw. – nach und nach selbst dekonstruieren, um dann zumeist sehr liebenswerte Menschen in einer weitaus diverseren Gesellschaft dahinter zu offenbaren. Tuvia Tenenbom gibt Einblick in eine archaische Welt, in der die Zeit in gewisser Weise stehengeblieben zu sein scheint, in der man Ethik und Alltag von zum Teil 3.000 Jahre alten Schriften abhängig macht. Aber das alles ist nicht so einfach.
»God speaks Yiddish« von Tuvia Tenenbom ist beim Jüdischen Filmfestival Wien am Mittwoch, dem 16. März 2024 um 19:30 Uhr im Metro Kino zu sehen.