Ein kleines Holzradio hängt an der Wand, ein so genannter »Volksempfänger«? »Et bientot cet cite«, tönt es, »international communism …« Eine Stimme spricht brutales Französisch mit schwerem russischem Akzent. Es ist Leon Trotzki, der in diesen Raum als Filmprojektion quasi durch ein Fenster hineinschaut. Redet und redet, sich freundlich nach links und nach rechts wendet. »La discipline est revolutionaire«, behauptet er. Ein Orient-Teppich, ein Orient-Sofa, der Besucher kann sich in der William-Kentridge-Ausstellung im Salzburger Museum für Moderne Kunst quasi in Trotzkis Zimmer hineinsetzen und Trotzkis Rede lauschen. Ein Song erklingt dazu und verhallt. Eine Frau turnt in weißer Balletthose und mit roter Schirmkappe ein revolutionäres Ballett. Das Bild verschwimmt, als ob Wasser davor wäre – das Wasser steigt ihr bis zum Hals.
William Kentridge: O Sentimental Machine, 2015, Filmstill
Die Revolution ist ein zentrales Thema in Kentridges Kunst, immer wieder schwärmt der jüdische Südafrikaner davon, macht sich aber auch lustig – auf zärtliche Art und Weise. Kentridge tanzt in einem Film als Trotzki verkleidet, ahmt seine Gesten nach, spielt mit ausladenden Bewegungen Theremin. »O Sentimental Machine« (2015), heißt der Zeichentrickfilm und wurde für die Istanbuler Biennale erschaffen. Denn dort, neben dem »Hotel Splendid Palace« auf einer Insel im Marmarameer, lebte Trotzki von 1929 bis 1933 im Exil in einer Villa. William Kentridge amüsiert sich über Trotzkis Aussage, dass Menschen »sentimentale aber programmierbare Maschinen« seien. »Die Revolution scheitert, solange Menschen sich verlieben«, hält er dagegen. Und solange sie abgelenkt sind. Der Mensch ist eben auch ein Individuum, nicht nur ein Teil des Kollektivs. »Die Gesten und Requisiten der Revolution versinken im Wasser.« Wasser, das nach den PsychoanalytikerInnen und eventuell auch nach Kentridge, dessen zurückgelassene Arbeitstische und -flächen in Salzburg zu besichtigen sind, Kreativität und Kunst bedeuten kann.
Skelette tanzen
Neun Leinwände, die in einem riesigen Saal an einer Wand entlang aufgestellt sind. Von rechts nach links wirbelt ein Tänzer vorbei. Dann folgt die Prozession, ein Umzug verschiedener Menschengruppen mit Fanfare von links nach rechts. »More Sweetly Play The Dance« (2016) nennt sich die Installation. Scherenschnitte, Schattenrisse, Schattenschnitte von Bildern von echten Performern. Echte Figuren halten ausgeschnittene Schattenblumen, stemmen sich gegen den Wind, tragen schwer – ist das der »Wind der Geschichte«, der Benjamins Engel davonbläst? Laute Kentridge-Musik, die er extra für seine Filme erstellen lässt. Leider ist in Salzburg keine CD beim Katalog dabei, wie damals in der Wiener Albertina in deren Kentridge-Ausstellung. Auf der CD konnte man die »Schattenprozession« von Alfred Makgalemele oder Sarastros Flöte hören. In Salzburg stehen Lautsprecher und Megaphone im Dunkeln auf Holzständern. Der Besucher darf sich seinen Emotionen hingeben. Die Musik drückt Leid und Trauer aus, aber auch Freude. Ein bisschen traurig, ein bisschen fröhlich – wie das Leben halt so spielt. Erstmalig wirkt dieses Betonmuseum auf dem Berg, das Leben in sich hineinsaugt und verschluckt, lebhaft und belebt. Menschen erfassen in ihrem Leid und in ihrer Unendlichkeit, das macht des alten Magiers William Kentridges Kunst aus. Dazu die Musik – wie Live-Musik auf einem Fest. Die Musik wandert ebenfalls, von einer Seite zur anderen. Sklaven, die Skelette ziehen, immer wieder diese angedeutete Dusche, die wie eine Laterne aussieht und auf die Shoah hinweist. Die Skelette tanzen. Ein tiefes Weinen ohne Tränen scheint eine Eigenschaft des »kollektiven menschlichen Unterbewusstseins« (C. G. Jung) zu sein. Eine Frau tanzt Ballett und schwingt die rote Fahne, die auf einer Machete oder an einem Gewehr befestigt ist. Sie legt auf die Zuschauer an, eine schöne Frau mit rotem Turban, steht auf den Zehenspitzen. Thick time, verdichtete Zeit.
William Kentridge: The Refusal of Time, 2012, Filmstill
Widerstandsrituale gegen den Tod
»Johannesburg (…) verfügt über all die düsteren Vorahnungen einer Allegorie, einer Inszenierung von Mythen. Die Luft ist erwartungsvoll und unruhig; der Wind trägt Kohlestaub vor sich her; das trübe Licht der Abenddämmerung verleiht dem Tag eine nervöse Stimmung. Gleich wird etwas passieren«, schreibt der Kunsttheoretiker Homi K. Bhabha über den Ursprungsort der Klagelieder in »More Sweetly Play The Dance«. Er betont den winzigen Moment, den die Figuren in dem Film brauchen, die Zeitspannen zwischen den Projektionswänden, um von einer Leinwand zur nächsten zu kommen. »Es öffnet sich ein Riss«, schreibt Kentridge selbst. »Das ist der Gast, auf den wir gewartet haben.« Der Film erinnert stark an den Todestanz von Viktor Rogy, dem letzten Dadaisten aus Kärnten, der sich im Krankenhaus beim Tanzen filmen ließ. Nackt und mit Infusionsschlauch in der Nase. Kurz darauf starb er leider schon. »Der Todestanz verkörpert die Ablehnung der Zeit«, schreibt Homi K. Bhabha, »die dadurch erreicht wird, dass der schicksalshafte Moment durch Widerstandsrituale verschoben wird – frenetisch tanzend, um den Paukenschlag des Todes zu besiegen.« Rogy trommelte selbst, indem er auf den Boden stampfte. Auflehnung gegen das Schicksal der »Prozession der Enteigneten« benennt Bhabha solche Kunstformen: »Gefangen im Flimmern zwischen Figuren und Hintergrund sinnen die Betrachter über ihre eigene unsichere Stellung der vorbeiziehenden Prozession des Todes nach.«
Und dann der entscheidende Unterschied zur »Revolutionskunst«: »Kentridge widersetzt sich der Passivität des Bildes – Menschen, die auf ihre Rettung warten -, doch er schlägt kein Emanzipations- oder Befreiungsprojekt vor. Seine Kunst bleibt ambivalent und rätselhaft.«
Alle Fotos © Courtesy William Kentridge, Marian Goodman Gallery, Goodman Gallery and Lia Rumma Gallery