Die Auflösung nationaler, gesellschaftlicher und kultureller Einheiten und deren Folgen fungieren heutzutage als Stein des Anstoßens in mehreren Wissenschaften. Unsere Existenz ist nicht mehr bzw. nicht immer im Rahmen des dichotomen Wirklichkeitsmodells vorstellbar. Die avancierte, im Rahmen der postkolonialen Forschung entstandene Theorie, die nach Bhabha1 als Third Space bzw. Drittraum bzw. Zwischenraum bekannt ist, lässt uns klar die offenkundigen Hybridisierungsprozesse einiger unserer Lebensbereiche erkennen. Die Faktoren, die sich an der Hybridisierung der sozialen Ordnung als einem Evolutionsmotor2 beteiligen, sind Globalisierung, Multikulturalismus, verschiedene Liberalisierungsversuche, Modernisierung, neue Kommunikationswege und dergleichen mehr. Als zutreffend erscheint hier die Einsicht Niklas Luhmanns, dass die Gesellschaften neben den Kontakträumen auch Immunstrukturen ausbilden, deren Funktion »nicht in der Korrektur von Irrtümern, sondern [in] der Abschwächung struktureller Risiken« liegt3.
Anwendung des Third Space auf existierende hybride Konstellationen
Wahrscheinlich ist die offenbarste und verbreitetste Form der Vielfältigkeit und Diversität die Kunst, mit all ihren Arten von »Treppenhäusern« und Verbindungsgängen zwischen Kunstformen und Kulturen. Zu den gegenwartsliterarischen Beispielen gehören zahlreiche renommierte AutorInnen wie beispielsweise Franco Biondi, Rafik Schami, Wladimir Kaminer, İmran Ayata, Navid Kermani, Vladimir Vertlib, Cătălin Dorian Florescu, Yadé Kara und Selim Özdogan. Ihre Werke dienen zur Entwicklung verschiedener Ausdrucksformen interkultureller Identitätskonzepte. Häufig werden diese Hybriden durch die Übertragung des Medium in ein anderes einer weiteren Diffusion unterzogen, wenn beispielsweise manche Texte verfilmt werden, wodurch die Architektonik der Dritträumlichkeit eine neue Verkörperung findet. Ein gutes Beispiel wäre neben anderen »Russendisko« von Wladimir Kaminer unter der Regie von Oliver Ziegenbalg.
Es existieren aber auch selbstständige, kinematographische Werke, die den Third Space aufschließen. Einer, der solche herzustellen vermag, ist Ferzan Özpetek mit seiner außergewöhnlichen Technik der »Dazwischen«-Darstellung der Kulturen. Die Musik bleibt in der Entwicklung diesbezüglich auch nicht zurück. Besonders der deutschsprachige Rap und HipHop bzw. (nach Cro) Roap vermehrt sich in Richtung Third Space, wenn nicht mit geometrischer, dann aber doch mit arithmetischer Progression. Es soll hier der Versuch unternommen werden, sich schrittweise dieser besonderen Erscheinung mittels Erläuterungen anzunähern und dabei aufzuzeigen, wie die Verflechtung des Einheimischen und des Fremden zu einem unabdingbaren Bestandteil der musikalischen Konzeption wird. Anhand von drei Feldern sollen die Hybridisierungen des Third Space mit Hilfe von Textbeispielen interpretiert werden.
Migrationshintergrund: deutschsprachige Roap-Musik
Zu der letzten Welle bzw. jüngsten Generation der im wörtlichen Sinne facettenreichen SängerInnen zählen Summer Cem (Zitieren), Farid Bang, Namika, Moe Phoenix, Capital Bra u. a. Ihre Besonderheit ist nicht nur durch Furore erklärbar, sondern auch durch Erschaffung eines neuen Freiraums mittels Bezugnahme auf ihre Herkunft. Alle aufgelisteten RapperInnen bzw. HipHopperInnen haben Migrationshintergrund und versuchen, ihre Wurzeln zu veranschaulichen – in jedweder Form: sprachlich, melodisch, äußerlich und dergleichen mehr. Auf diese Weise erscheinen vor den ZuschauerInnen marokkanische Landschaften in Namikas Musikvideos mit Worten wie »Je ne parle pas français, aber bitte red weiter …«, sowohl arabische Sprache, als auch arabische Tänze bei Moe Phoenix, ein russischsprachiger Refrain bei Capital Bra u. Ä.
Manchmal erzeugen die ansonsten schicken und charmanten Mischungen Irritationen, wie im Fall von Summer Cem, der gezielt das Verständnis seiner Texte erschwert: »Egal, wo ich hingehʼ, ich werdʼ erkannt (ja) / Fragt mal, warum, weil ich bin bekannt (eh) / Nobu Malibu, wer kann, der kann (ja) / Easy, easy, tamam, tamam / Pronto, pronto, avanti, lan (ja) / Komm mir nicht mit falan filan (heh) / Eine Faust, dein Kafa Zidane (huh) / No sıkıntı, tamam, tamam«. Markante Strophen findet man aber auch bei den Rappern ohne Migrationshintergrund, wie z. B. bei RAF Camora, der singt: »All meine Arabs sind heute Latinos. ¿Chica, qué pasa? Die Boys sind amigos …«. Solche Fälle bestätigen den florierenden und systematischen Charakter des Third-Space-Phänomens.
Varietäten/Plurizentrik: Musik als Kodifizierungsmöglichkeit für Dialekte
In einem erweiterten Sinne existiert der Drittraum auch in den Songs, die eine einheitliche Struktur aufweisen und ohne fremdsprachige bzw. fremdkulturelle Einschlüsse sind. Dies geschieht, wenn die »fremden« Einflüsse durch regionale, dialektale Varietäten des Deutschen ersetzt werden und somit eine Hybridisierung ermöglichen. Entspricht dies aber den theoretischen Grundlagen der Zwischenräumlichkeit? Als eine relativ junge Subkultur, die in ihren Liedern aktuelle Themen und Probleme zur Sprache bringt, stellt sie für manche Dialekte manchmal die einzige Chance dar, zumindest durch die Musik kodifiziert zu werden. Der dialektale Raop stellt aufgrund der Dominanz des Standarddeutschen und des impliziten, d. h. langsamen Aussterbens einiger Mundarten eine seltene und seltsame Kunstart dar.
Der Meistertitel des Dialekt-Raops gebührt fraglos der Schweiz, anerkannte Repräsentanten sind hier Lo & Leduc, Dodo, Skor, BLIGG u. a. Wie nie zuvor erlebt Österreich auch eine Blütephase, die von Droogieboyz, Kreiml & Samurai, Monobrother, Kroko Jack usw. lanciert wird. Demgegenüber wurde in Deutschland ein anderer Weg eingeschlagen, auf dem nur standardsprach- und migrationsbezogene Spuren erkennbar wurden. »Und irgendwie macht jede biz kunscht« (Dodo: »Zürimaa«).
Konstellationen bei der Internationalisierung/Assimilierung von Songs
Es existiert aber offensichtlich noch eine weitere Form der künstlerischen Third-Space-Bildung, die im deutschsprachigen Raum leider nicht verbreitet ist. Die Auslandsmärkte im Musikbereich sind für alle KünstlerInnen, besonders für MusikerInnen, von enormer Bedeutung. Während einige danach streben, ihre Werke gemäß dem Geschmack der potenziellen HörerInnen zu assimilieren, bringen andere (heutzutage zumeist DJs und Pop-SängerInnen) ihre »Heimat« teilweise ins Ausland mit. So macht DJ Mahmut Orhan das Publikum mit seiner orientalischen Kultur bekannt, indem er Melodien des Nahen Ostens neu interpretiert und sie in seinen Musikvideos mit den schönen Moscheen und den BewohnerInnen von Medina bebildert. Die Schaffung des Drittraumes verursacht hierbei die Hybridisierung mit der westlichen musikalischen Tradition und den englischsprachigen Texten. Diese steht im Vordergrund und hat ihn international bekannt macht.
Zu den wenigen »deutschen« Beispielen zählt DJ Felix Jaehn. Da er sich vornehmlich mit der musikalischen Phrasierung beschäftigt, versucht er manchmal, eine deutschsprachige »Einführung« zu den englischsprachigen Liedern zu geben und dabei die parallel laufenden Musikvideos mit ihrem US-amerikanischen Hintergrund zu kommentieren: »Es ist so wichtig, authentisch und einfach mal selbst zu sein; sich treu zu bleiben. Es ist egal, wer du bist, wie du aussiehst oder was für Klamotten du trägst, solange du dabei authentisch bist. Sobald du dich verstellst, versuchst, jemand anders zu sein, bist du nicht mehr cool« (Felix Jaehn: »Cool«).
Von dieser Aussage ausgehend und all das zuvor beschriebene summierend, könnte man zum Schluss kommen: Die deutschsprachige Musik ist tolerant in dem Sinne, dass sie neue Importe aller Art zulässt, aber wohl noch nicht zum Export bereit. Ungeachtet der jeweils bestimmenden Deutung und damit auch etwas einengenden Zugehörigkeit zu einer jeweiligen Sub- oder Hauptkultur und den kontrastierenden Underground-Strömungen stellen moderne Kunst und namentlich die verschiedenen Musikszenen den seltenen und vielleicht einzigartigen Fall dar, dass hier eine fortschrittliche Entwicklung im Rahmen der Third-Space-Theorie verwirklicht wird. Denn es sind eben genau diese Zwischenräume, die die oben angeführten Genres hierzulande so schnell vielseitig florieren lassen.
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1 Homi K. Bhabha: »Theoretiker des Postkolonialismus«.
2 Nolte, Arne W. (2014): »Hybridisierung als Evolutionsmotor«. Max-Planck-Gesellschaft.
3 Kron, Thomas (2016): »Die Metapher der Immunisierung.« In: Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, S. 217–234.