Einen knappen Monat zuvor war ich ins niederländische Groningen ausgeflogen, um ins Eurosonic hinein zu schnuppern. Trotzdem sind Musikmessen mit ihren umherschwirrenden Geschäftsgesprächsfetzen und beiläufigen Begrüßungen noch lange keine Normalkost für mich. Da mir die Teilnahmegebühr erlassen worden war, fühlte ich mich zu Seminarteilnahmen verpflichtet. Lange hielt es mich trotzdem nicht auf den Sesseln, denn für die wirklich vielversprechenden Diskussionen (Über die Aufrichtigkeit im sozialen Engagement von Musikern befragte man beispielsweise Dennis Lyxzén von The International Noise Conspiracy) blieb mir keine Zeit. Entweder überschnitten sie sich mit lang ersehnten Auftritten oder festgelegten Interviewterminen. Musik geht vor, vor allem, wenn Thom Hell hinterm Mikro steht. Als Solokünstler schon höchst verehrungswürdig (das zartmelancholische »Why do I feel«!! seufz!!), verbindet sich bei Twinklehead sein Singer/Songwriterschmelz mit Beatmusik.
Vom 10. bis zum 12. Februar verlagerte sich das Zentrum des norwegischen Musiktreibens von der Hauptstadt ins südwestlich gelegene Stavanger. International will das bylarm sein und erfüllt diesen Anspruch doch nur halb. Trotz zunehmender Beteiligung ausländischer Medienvertreter und Musikschaffender fällt deren Zahl im Gesamtteilnehmerverzeichnis vergleichsweise gering aus. Wachstum ist für die kommenden Jahre selbstverständlich erwünscht und wahrscheinlich. Den Erfolg erzwingen will man aber nicht, sondern lässt der Entwicklung ihre Zeit und setzt auf kluge Kooperationen. Am Konzept wird nichts geändert – bylarm versteht sich auch zukünftig als Präsentierteller für heimische Bands. An die Popkomm wird auch ein ausgebautes bylarm nie heranreichen. Zum Eurosonic sollte es aber sowohl in Größe und Wichtigkeit aufschließen können und Mitte Februar für ausgebuchte Norwegenflüge sorgen.
Schweift der Blick auf Suche nach norwegischer Musik über Oslo hinaus, bleibt er vor allem und beinahe ausschließlich in Bergen hängen. Im Grunde genommen hat sich in der Wahrnehmung überhaupt zu Gunsten der Hansestadt verschoben. Röyksopp, Kings Of Convenience, Sondre Lerche, Magnet, Ai Phoenix, Ephemera stammen aus Bergen. Auch die Karriere von Kaizers Orchestra kam erst von Bergen aus in Schwung. Dass der Großteil der Band eigentlich in Stavanger und Umgebung aufgewachsen ist, wird meistens zu erwähnen vergessen. Schade, denn es gäbe einen Hinweis auf die musikalischen Auswüchse der Stadt, die durch ein hohes Maß an Eigenart glänzen. John Erik Kaada hielt sich als Kaada aus dem Showcaseprogramm leider heraus. Von sich behauptet er, unter seinem Nachnamen stinknormalen Pop zu machen, straft sich durch diese Einschätzung aber sofort selbst Lügen. Der sampleverliebte Technikfreak stellt bei seinen Soloversuchen der Melodie nichts in den Weg. Mit Cloroform jazzrockt er hingegen auf die brachiale Art, bis vor lauter Anstrengung nach den Konzerten mitunter auch Blut fließt. Die Musik von Thomas Dybdahl reckt sich durch ihre Intimität und Direktheit aus der Singer/Songwritermenge. Erik Salvesen verarbeitet als Frontmann der Mayflies einen traumatischen Zirkusbesuch aus seiner Kindheit und führt den »Circus Noir« aus den Sechzigern/Siebzigern musikalisch ins Heute. Die Surfrocker Helldorado drängen sich Quentin Tarantino als erste Wahl für den Soundtrack zu seinem nächsten Film auf. Pål Jackman entstaubt Gedichtvertonungen (furios sein Erlkönig) und bricht mit Sprachgewohnheiten. Selbst polnische Volkslieder finden sich in den Setlists seiner genialen Auftritte. Egal, ob mit oder ohne Wunderkammer-Begleitung – die Weltoffenheit bei seiner freien Stilwahl, die er zu dem für ihn typischen Ausdruck prägt, beeindruckt. Nicht wegzudenken aus Stavanger sind auch Christer Knutsen, The Substitutes, Tumbleweed, Popface und noch eine Reihe anderer Bands, die nur deshalb keine Erwähnung finden, weil ich sie von meiner Liste streichen musste. Möglichst vielen Auftritten beizuwohnen setzte eine strategische Planung um einige Fixpunkte voraus, die Eventualitäten wie Schlangestehen miteinberechnet. So desperat, um mir die Vorfahrt durch das Ziehen der Akkreditierung zu erschleichen, wollte ich mich nicht zeigen. Die zwischen den beteiligten Clubs zurückzulegenden Wegestrecken hingegen waren beim Zusammenstellen der Terminabfolge als Zeitfaktor zu vernachlässigen. In Stavanger liegt einfach alles »ums Eck«.
Am ersten Abend musste ich mir ohnehin keine großen Auswahlgedanken machen. Das norwegische Radio plante für diesen Konzerttag Direktübertragungen ein. Anstatt sich selbst auf mehrere Orte zu verteilen, versammelten sie lieber ihre Wunschkandidaten in einem Saal. »Unsere Stars und jene Bands, die wir zu Stars machen wollen« hing unausgesprochen über dem Line-Up. Nach Christer Knutsen, einem Songwriter mit Countryeinschlag, beanspruchten The Beautiful People die Bühne für sich, die sich musikalisch an Joy Division, David Bowie, Velvet Underground usw. fortgebildet haben. Wer sich den Vorsatz ins Knopfloch steckt, wunde Punkte bei den sehr jungen, talentierten schönen Menschen zu suchen, um dort Kritik ansetzen zu können, wird wahrscheinlich vor lauter Posen die Show nicht sehen. Mit Ausnahme des Sängers agierten die Bandmitglieder innerhalb eines sehr reduzierten Bewegungsradius. ??dne Meisfjord unterschied sich rein optisch von seinen Kollegen, an die er die Hosenrolle abgegeben hat, um selbst in einem unterwäschedünnen Kleid der Androgynität weiter zuzuspielen. Dem Booker des Readingfestival dürfte das so beeindruckt haben, dass er sich vor Ort The Beautiful People für das diesjährige Programm gesichert hat. Bei Gåte wurde es zum ersten und einzigen Male während aller Veranstaltungstage auch im Randbereich des Zuschauerraumes bedrückend eng. Aufgewärmte Volkstöne über Liebe und andere Verhängnisse kühlt die Band durch ihre metallene Neubearbeitung ab, ohne an deren mythischen Außenschicht zu kratzen. Abgelöst wurden Gåte durch Annies zuckersüßem Electropop, der live ein wenig sauer, weil wegen der Stimmschwankungen fad aufstieß. Sichtlich unwohl fühlte sich die DJane im Mittelpunkt des Geschehens, in dem sie allerdings auch erst zum zweiten Male stand. Den guten Ansatz, aber noch unspektakuläre in ihrem Auftritt ließ Zeit und Raum genug für Mutmaßungen – etwa ob Annie für ihr Debütalbum »Anniemal« nur deshalb vielfach nominiert und alarmpreisbekrönt wurde, weil u.a. Röyksopp hinter der Produktion standen. Seltsamerweise blieben beim abschließenden Auftritt von Madrugada die Reihen gelichtet, und das, obwohl klar war, dass Stücke des mit Spannung erwarteten neuen Albums »The Deep End« in all seiner dunklen Schönheit hervorblitzen würden.
Dankbar war ich, dass mir by:larm eine weitere Chance gab, um The Brimstone Solar Radiation Band zu erleben. Ein knappes halbes Jahr zuvor lernte ich sie unter denkbar schlechten Umständen kennen. Art des Geschehens: Open-Air-Auftritt im Rahmen der Semestereröffnungfestwoche am Osloer Unicampus. Gut sieben Meter Leere galt es zwischen Bühne und Biergläsern zu überbrücken, an deren Henkel die Studenten hingen und die Band mit nicht mehr nüchterner Missachtung straften. Gut, das Konzert war gratis, der Alkohol nicht – aber das kann doch wohl keine Erklärung und noch weniger eine akzeptable Entschuldigung dafür sein, lieber ins Gesöff zu starren als sich von Brimstone tragen zu lassen. Um sie musikalisch einzuordnen geben Motorpsycho in ihrer späteren Phase und The Soundtrack Of Our Lives gute Anhaltspunkte. In Stavanger bekam die Band das Publikum, das es sich verdiente und ich das Ende langer Grübeleien serviert: Der Brimstone-Sänger hat stärkere Ähnlichkeiten zu Jack Black als zu einem »Almost Famous«-Entsprungenen.
Durch welchen Spaghettiwestern sich die Namensschablone der Band schleppt, bleibt nicht in meinem Gedächtnis haften. Tuco’s Lounge sind hörbar von
derlei Genrefilmmusiken inspiriert und haben für ihre Stilrichtung die treffende Bezeichnung Revolverrock gefunden. Obwohl mit ihren Landsmännern von Helldorado artverwandt, geben sie nicht im selbem Maße Tarantinofutter ab. Das Livegebaren der Band drängt zu einem anderen innernorwegischen Vergleich: Kaizers Orchestra. Natürlich gibt es Unterschiede – statt Ölfässern wird auf traditionelle Instrumentenhandhabung vertraut. Der gemeinsame Nenner umarmt die ungezwungene Gesprächshandhabung des Sängers, der ungeniert mit dem Publikum flirtet und den Takt zur Verbrüderung vorgibt. Hier (Tuco’s) wie dort (Kaizers) haben die ehrfurchtseinflößenden Bandmitglieder die Verschwörung im Programm. »Come down to Tuco’s Lounge, where parasites come together, and the drinks are all for free … « … leider nicht in Norwegen, und so heißt es Zähne zusammenbeißen beim nächsten Kontoauszug.