In einem Essay zu Michael Hanekes Verfilmung ihres Romans »Die Klavierspielerin« (Roman 1983; Film 2001) vergleicht Jelinek literarische und filmische Figuren mit Tintenfischen, die sich in ihrer Tinte einnebeln: »Je besser sie ausgedacht worden sind, umso mehr Flüssigkeit, die sie wieder verdunkelt, und im letzten Aufflackern von etwas, das man gerade noch sieht, werden sie Unwesen und ungewöhnlich, und sie werden zu dem Nichtplanbaren, und daher zu Leben wie Nichtleben zugleich. Sie werden ihre eigenen Ausnahmen und damit: einzigartig, gerade indem sie sind wie alle.«
Die Unbestimmtheit einer fiktionalen Konstruktion wird also umso größer, je besser diese Konstruktion ist. Das klingt zunächst widersprüchlich. Aber man könnte in einer Abwandlung von Jelineks Sätzen auch sagen: Je mehr Fleisch etwas hat, umso mehr entfernt es sich vom Begriff, oder besser: umso mehr opponiert es gegen das Aufgehen in einer Abstraktion. Jelinek anerkennt in ihrem Essay mit Witz, dass diese Leistung im Rahmen eines Films – also eines Mediums, das in ungeheuerlichem Ausmaß auf Ordnung und Planung angewiesen ist – erstaunlich ist.
Claudia Müllers Film macht nun die Autorin Elfriede Jelinek zu einer Figur. Und zwar einerseits werkfokussiert, im Rahmen einer Bild- und Sound-Montage, die sich assoziativ am sprachkompositorischen Verfahren der Autorin orientiert. Dabei bekommt Text viel Raum: Aus Romanen, Essays und Theaterstücken lesen etwa Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Sandra Hüller oder Sophie Rois. Müller konzentriert sich aber nicht nur auf diese spielerische Text-Bild-Verschaltung, sondern möchte andererseits auch der Figur Jelinek als zeitgeschichtlicher gerecht werden – bzw. der ihr aufgezwungenen Funktion als kollektive Projektionsfläche widersprechen. Dieser Anspruch ist verständlich, aber ziemlich groß für 96 Minuten Lichtspiel.
»Lust« im Quartett
Immer wieder gelingt die Verknüpfung von literarisch-filmischem Essay und Dokumentation dennoch brillant. Etwa wenn wir eine Szene aus dem Roman »Lust« (1989) hören und dabei mit der Kamera über einer österreichischen Winterlandschaft schweben, langsam auf ein Windrad zu. Die stumme Indifferenz von Natur und Technik – Fremdenverkehr und Fortschritt – spiegeln und verkomplizieren die Gewaltnormalität der gelesenen Szene. Es geht in dem Text um Vergewaltigung innerhalb einer Ehe; ein Verbrechen, das erst im Erscheinungsjahr des Romans ein Straftatbestand in Österreich wurde. Jelinek hatte vor Erscheinen kokett behauptet, sie habe einen Porno aus weiblicher Perspektive schreiben wollen. Dass dies vor dem Hintergrund einer männlich geprägten Sprache kaum möglich ist, exerziert der Roman durch, indem er Alltagsphrasen mit der Gewaltsprache der Pornografie in einem doppelbödigen Stimmenfluss amalgamiert.
Auf diese Szene folgt ein Ausschnitt aus einer Folge des TV-Formats »Literarisches Quartett« aus demselben Jahr. Zur Erinnerung: In dieser Sendung diskutierten Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Hellmuth Karasek über neu erschienene Bücher. In dieser Folge war Jürgen Busche als vierter Diskutant zu Gast. Die Szene macht wunderbar deutlich, wie Jelineks Sprache aus der Reserve lockt, denn die intellektuellen Herren entlarven nicht nur ihren dumpfen – heute zumindest im Fernsehen unmöglichen – Antifeminismus, sondern unterstreichen dabei auch noch die These von Jelineks Text und damit seine Notwendigkeit: In der Diskussion wird zwar über die Wiederholungsschleife der Gewalt in dem Buch die Nase gerümpft, aber die Wortwahl für die beschriebenen Vorgänge verfällt immer wieder in einen Jargon der Normalität. So ist die Rede von den »intimen Vorgängen eines Ehelebens« oder der »Inanspruchnahme ehelicher Pflichten« (Busche), von »sexueller Aktivität« (Karasek) oder auch vom »Sexualleben« (Reich-Ranicki). Karasek bezeichnet die ironisch an der damaligen Pornografie orientierte Dauergeilheit des Mannes gar als »beneidenswerte Sexualität« und Reich-Ranicki sieht in dem Buch »das Sexuelle« allgemein denunziert. Mit diesen Euphemismen und einer grundlegenden Abwehr stellen sich die drei Herren gegen Löffler, die mit einer Engelsgeduld Jelineks Literatur verteidigt.
Widersprüchliche Stimmen
Als zeitgeschichtliche Collage bleibt der Film weitgehend linear und folgt einem offenkundig didaktischen Anspruch: Jelinek aus dem rechten Licht rücken, könnte man sagen. So geht es von ihrer Kindheit bei der Mutter, die sie zum Musikgenie dressieren wollte; über das erste »Skandaltheaterstück«, in dem Jelinek sich der gefeierten Burgschauspielerin und NS-Propagandistin Paula Wessely annimmt; über ihr Engagement im Nachhall der Morde an vier Roma durch Rechtsextreme 1995 – Jelinek hatte daraufhin ein Theaterstück geschrieben, das zahlreiche Zitate des rassistischen »Kronen Zeitung«-Chefpöblers Richard Nimmerrichter verarbeitete –; hin zur Verleihung des Nobelpreis 2004 etc. Der Film lässt zudem nochmals etliche Stimmen von der Straße hören: Eine wichtige und nur schwer erträgliche Erinnerung an die Nestbeschmutzer-Häme, orchestriert von rechten Politikern und dem Kampagnenblatt »Kronen Zeitung«, das Jelinek in einem Interview polemisch – aber bis heute präzise – als »Agentur des gesunden Volksempfindens« denunzierte.
Zuletzt sehen wir, ganz kurz nur, eine aktuelle Aufnahme von Jelinek und wir hören sie sagen, ihr sei klar geworden, dass man die eigenen Sachen schwächt, wenn man sie erklärt. Müllers Film freilich steht in direktem Widerspruch zu dieser Erkenntnis. Schließlich sind etliche alte Interviews und Erklärungen in die Montage eingeflossen, stets so rhythmisiert, dass auf textnahe Radikalität eine einordnend-didaktische Klärung folgt. Es ist Müller hoch anzurechnen, dass sie diesen Widerspruch am Ende des Films und mit Jelineks eigener Stimme ganz explizit macht. Und vielleicht schafft es gerade diese widersprüchliche Verbindung von Didaktik und Radikalität, für manche Kinobesucher*innen ein Fenster zu Jelineks Werk und der Figur Jelinek aufzustoßen. Zu wünschen wäre es. Denn Jelinek ist nicht nur die wichtigste Autorin Österreichs, sondern steht weiterhin für eine radikal emanzipatorische Literatur, die gegen das Schweigen sowie das phrasenhafte Selbstverständlichmachen von Herrschaft aufsteht. Dass das funktioniert, ist bewiesen: Denn ist Jelinek in aller Munde, dann spricht auch der österreichische Alltagsfaschismus. Und er gibt sich als das zu erkennen, was er ist: ein gekränkter Autoritarismus, der keine kritische Polemik erträgt, aber für jede Hetz(e) zu haben ist, die nur seine völkische Wohlfühl-Borniertheit unangetastet lässt.
»Elfriede Jelinek« hatte bei der Viennale Österreich-Premiere; der offizielle Kinostart folgt am 10. November 2022.
Link: https://www.viennale.at/de/film/elfriede-jelinek-die-sprache-von-der-leine-lassen