Grafik © Kathi Arnecke
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Mehr Demokratie bitte!

Auch beim BAM! Wahlspecial anlässlich der Wiener Wahlen am 11. Oktober 2020 im Fluc darf sich die gleiche Frage gestellt werden, wie viele Male zuvor: Weshalb schließt die österreichische Demokratie so geflissentlich Menschen aus? Ein historisch-kritischer Überblick.

Bei der Gemeinderatswahl in Wien am 11. Oktober 2020 gibt es 1.133.010 Wahlberechtigte mit österreichischer Staatsbürgerschaft, fast gleich viele wie 1987, während sich die Anzahl von Ausländer*innen im selben Zeitraum mehr als verfünffacht hat (1). Zusätzlich dürfen in den Bezirken 229.779 Personen mit EU-Staatsbürgerschaft wählen. Das liegt nicht daran, dass die Stadt Wien so nett ist und den EU-Bürger*innen hier mitzureden erlaubt, sondern der Vertrag von Maastricht von 1992 regelt, dass EU-Bürger*innen an Kommunalwahlen in der Gemeinde, in der sich ihr Hauptwohnsitz befindet, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaf teilnehmen dürfen. Ca. 30 % aller Wiener*innen dürfen wegen »falscher« Staatsbürgerschaft gar nicht wählen.

Sind Wahlen das Nonplusultra der Demokratie?
Nein, natürlich ist es zu wenig, alle paar Jahre zur Urne zu gehen, um dann von den Politiker*innen zu hören, »die Wähler« hätten entschieden, was die Politik die nächsten fünf Jahre ohne uns Wähler*innen tut. Warum setzen wir uns dann dafür ein, dass alle wählen dürfen sollen? Weil es eine von vielen Möglichkeiten ist, die Demokratie in der jetzigen Form weiterzuentwickeln. Ein Wahlsystem darf nie stehenbleiben. Jede Erweiterung der Gruppe von Wahlberechtigten war in der Geschichte im Nachhinein nie ein Problem und wird als selbstverständlich erachtet, bspw. zuletzt die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. Eine weitere Kritik an der Demokratie ist, dass Kleinparteien die Teilnahme an Wahlen erschwert wird: Prozenthürden, Unterstützungserklärungen, Ignoranz in der Medienberichterstattung, allen voran beim ORF. Aber das wäre einen eigenen Artikel wert. Wahlen sind immer Ausschluss von jemandem, die Herrschenden haben kein Interesse, daran substanziell etwas zu ändern. Änderungen müssen, wie immer in der Geschichte, von unten erkämpft werden.

Historische Aspekte
Schon seit Einführung moderner Wahlen gab es verschiedene Kriterien, nach denen Menschen das Wahlrecht erteilt wurde: Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (Kuriensystem z. B. nur Adel), bestimmtes Vermögen (Zensussystem) oder Geschlecht (nur Männer). Diese Kriterien waren immer Ausdruck der aktuellen herrschaftlichen Verhältnisse und hinkten oft genug der Realität hinterher. Kaum ein Wahlrecht spiegelt den Stand der gelebten gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Die Idee, dass nur Angehörige des eigenen Staates mitbestimmen dürfen, stammt aus einer Zeit, als die Länder sich voneinander abschotteten und abgrenzten, weil sie verfeindet waren oder gegeneinander Krieg führten. Diese Einstellung hat sich in Österreich im Geist bis heute gehalten. Im 21. Jhdt. ist dieses Konzept, im juristischen Fachjargon als »Inländervorbehalt« bezeichnet, längst veraltet: Die Welt ist kleiner geworden, die Mobilität der Menschen wächst und die Staatsangehörigkeit als ein Stück Papier hat immer weniger Bedeutung für die Identität eines Menschen. Das Staatensystem ist allerdings weiterhin auf Immobilität ausgerichtet.

Wählen in Wien
Im Jahr 2003 beschloss das Bundesland Wien mit den Stimmen von SPÖ und Grünen, das Wahlrecht in den Gemeindebezirken auch auf Nicht-EU-Staatsbürger*innen, die seit wenigstens fünf Jahren ihren Hauptwohnsitz in Wien haben, auszudehnen. Der Verfassungsgerichtshof erklärte dies nach einer Klage der ÖVP für verfassungswidrig und hob die entsprechende Bestimmung der Wiener Gemeindewahlordnung 2004 wieder auf (2). Er stützte sich in seinem Erkenntnis u. a. auf Begriffsdeuterei der Worte »Volk« als die Gesamtheit derer, die die österreichische Staatsbürgerschaft haben, und »Bevölkerung«, die Gesamtheit aller Bewohner*innen. Leider geht in der Bundesverfassung das Recht nur vom Volk aus (Artikel 1 BV-G), womit andere nichts mitzureden haben. Allerdings gibt es weder für »Volk« noch für »Bevölkerung« international festgelegte juristische Definitionen, womit die Argumentation des VfGH sehr konservativ ist.

»Soins hoit Österreicha wean!«
In den letzten Jahren fanden die Gegner*innen nur mehr ein Argument: Die Ausländer*innen sollen die österreichische Staatsbürgerschaft annehmen, denn nur so gehören sie zum Land und haben die Befähigung, zu entscheiden. Nachzulesen in diversen Online-Foren und Social Media, wo das Thema vor jeder größeren Wahl aufkommt und nicht selten mit »So a Schwochsinn!« kommentiert wird. Der Status Quo soll zementiert bleiben, das meinte unlängst sogar der Wiener Bürgermeister. Dieses Argument ist einfacher, als darüber nachzudenken, was sich andernfalls positiv ändern könnte.

Die Staatsbürgerschaft ist in Österreich nur sehr schwer zu erhalten – hohe Kosten, viel bürokratischer Aufwand, strenge Voraussetzungen. Aber es gibt auch Menschen, die diese unter erleichterten Bedingungen erhalten. Das sind zum einem Prominente »für außerordentliche Leistungen im Interesse der Republik« (3), bspw. eine berühmte Opernsängerin aus Russland. Zum anderen sind es Nachfahren von Opfern des NS-Regimes, die in aller Welt verstreut leben, Schätzungen zufolge bis zu 200.000. All diese dürfen in Österreich wählen, obwohl sie nie hier lebten. Wie sollen sie so eine Wahlentscheidung treffen? Ein Stück Papier namens »Staatsbürgerschaft« sagt heute nicht mehr viel über einen Menschen und den Bezug zum Land aus. Auch zugewanderte Bewohner*innen gestalten aktiv die Stadt und das Land mit, sie müssen sich an die Gesetze halten, zahlen Steuern, haben hier Familie und ein soziales Umfeld, ihre Kinder gehen hier zur Schule. Das Wahlrecht fördert die Integration, die Einbindung in die Politik und zeigt Anerkennung und Wertschätzung.

Vorbild Estland
In einigen anderen Ländern dürfen Menschen unabhängig von der Staatsbürgerschaft wählen, wenn auch meistens nur auf lokaler Ebene. Nirgendwo ist es ein Problem und gilt heute überall als Selbstverständlichkeit, die man nicht mehr missen möchte. Eine rühmliche Vorreiterrolle in der Mitbestimmung spielt das 1991 unabhängig gewordene Estland. 1992 knüpfte es in seiner Verfassung das aktive kommunale Wahlrecht nur an den Wohnsitz und nicht an die Staatszugehörigkeit, genaugenommen nicht einmal an den Besitz einer Staatsbürgerschaft (4). 1993 wurde diese Regelung erstmals angewendet. Es sollte dies ein erster Schritt sein, um die Mitbestimmung von nichtestnischen Bürger*innen sowie deren Einbindung in das gesellschaftliche Leben in Estland auszuweiten. Mit Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen 1997 wurde das Vorhaben der Ausweitung des Wahlrechts auf Parlamentswahlen wieder fallengelassen und war seither leider kein Thema mehr. Das kommunale Wahlrecht für alle Menschen blieb zum Glück erhalten. Der Anteil von Nicht-EU-Bürger*innen, die daran teilnehmen, ist genau so groß wie der der EU-Bürger*innen. Dies könnte auch ein Weg für Österreich sein, auf der untersten Ebene damit zu beginnen, das Wahlrecht auszuweiten.

Das reicht noch lange nicht
Nichtstaatsangehörigen wird die Mitbestimmung in ihrem Wohnland, wenn überhaupt, nur auf der untersten Ebene gewährt. Die kleinste Verwaltungseinheit, Gemeinde bzw. Bezirk, hat nur wenige Kompetenzen der Entscheidungsgewalt und wenn, dann haben diese nur lokalen Charakter. Überspitzt formuliert: Die Frage, wer über einen Zebrastreifen entscheidet, darf auch Ausländer*innen gestellt werden, die Frage, wer ein Bundesgesetz beschließen soll, darf ihnen nicht gestellt werden, obwohl sie sich genauso an eben diese Gesetze halten müssen. Die Entscheidung über die höchste Staatsgewalt bleibt allein jenen Menschen zugänglich, die sich mittels eines Stücks Papier dazu bekennen, selbst wenn sie gar nicht in diesem Staat wohnen und sich mit ihm möglicherweise auch nicht mehr verbunden fühlen. Seit einiger Zeit gibt es zaghafte Initiativen, das Wahlrecht zumindest für EU-Bürger*innen auszuweiten. Der Landtag von Vorarlberg beschloss im Jänner 2019 eine entsprechende Resolution (5), der Wiener Gemeinderat im November 2019 (6). Die Europäische Bürgerinitiative »Voters without Borders« sammelt Unterschriften für eine Unionsbürgerschaft und für das Wahlrecht für EU-Bürger*innen auf allen Ebenen, gleich wie bei der EU-Wahl, wo sich Betreffende aussuchen können, ob sie im Heimatland oder im Wohnsitzland ihre Stimme abgeben (7).

Ausblick
Wir werden das Wahlrecht für alle nur durchbringen, wenn wir das Thema unabhängig von Wahlen permanent präsent halten. Ob die Regierenden durch diese Änderung ihre Macht verlieren würden, wissen wir nicht, allein die Vorstellung und Befürchtung hält sie anscheinend davon ab oder aber sie gefallen sich in der Rolle der »Zuckerlspender«. Auch die Betroffenen selbst müssen mit dem Anliegen raus, noch sind die Stimmen derer, die das fordern, viel zu leise. Die jedes Jahr zunehmende Teilnahme an der Pass-egal-Wahl von SOS Mitmensch zeigt, dass Bedarf da ist. Die Umsetzung des Wahlrechts für alle von einem Tag auf den anderen ist ohnehin unmöglich. Es braucht vorher breite Information und Bewusstseinsbildung in der gesamten Bevölkerung, damit die »neuen« Wähler*innen mit dem neuen Recht etwas anfangen können und den »alten« Wähler*innen die Ängste genommen werden. Aber auch die Parteien müssen sich dann anstrengen und etwas überlegen, um die »neuen« Wähler*innen für sich zu gewinnen. Gleichzeitig profitieren alle von dem Prozess, sie gewinnen neues Interesse an Politik und politischer Teilhabe. Wichtige Voraussetzungen für eine gute Information wären: flächendeckende Arbeitszeitverkürzung, Zerschlagung von quasimonopolistischen Medienkonzernen und Verlagerung der politischen Polarisierung von der horizontalen Links/rechts-Achse in die vertikale Oben/unten-Achse.

Vorbilder weltweit
Übrigens: Jene Länder, die allen ihren Bewohner*innen das uneingeschränkte Wahlrecht geben, liegen ausschließlich außerhalb von Europa: Uruguay führte es 1952 ein, Chile 1971, Neuseeland 1975 und Malawi 1994.

Die Ergebnisse der SOS Mitmensch Pass-egal-Wahl 2020 werden beim Salon skug BAM! Wahlspecial am 11. Oktober im Wiener Fluc bekanntgegeben.

Maria Kohen ist Aktivistin für das Wahlrecht für alle.

(1) Quelle: Statistik Austria
(2) https://www.vfgh.gv.at/downloads/VfGH_G_218-03.pdf
(3) § 11a Abs. 4 Z. 4 Staatsbürgerschaftsgesetz
(4) § 156: … »In elections to local government councils, persons who reside permanently in the territory of the local government and have attained eighteen years of age have the right to vote, under conditions prescribed by law.« http://www.president.ee/en/republic-of-estonia/the-constitution/index.html
(5) http://suche.vorarlberg.at/vlr/vlr_gov.nsf/VLR/vlr_gov.nsf/E2DBDE425CA0EC18C125835A00390653?OpenDocument
(6) https://www.wien.gv.at/ma08/infodat/2019/pgl-1034296-2019-gat.pdf
(7) https://voterswithoutborders.eu

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