»The Dirt« © YouTube
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Karikaturen ihrer selbst

Eigentlich galt die Biografie von Mötley Crüe als unverfilmbar. Jetzt hat sich Netflix getraut und das 2001 erschienene Buch »The Dirt« auf die Laptopbildschirme gebracht. Leider.

»The Dirt« ist die Gebrauchsanweisung für Rock’n’Roll. In keinem anderen Buch wird so viel Jack Daniels gesoffen, so viel weißes Pulver von Arschbacken gezogen und so viele Hoteleinrichtung zerlegt wie in der Biografie von Mötley Crüe, den Glam-Rockern aus L. A. In den 1980er-Jahren zu Superstars aufgestiegen, hat die Band in ihrer Karriere keinen Exzess ausgelassen. Musik war bei ihnen lediglich der Beiwagen in einem Laster voller Sex-, Alkohol- und Drogeneskapaden. 2001 schrieb man die Geschichten mithilfe des Autors Neil Strauss auf. Ein unterhaltsames Buch erschien und Hollywood streckte die Finger aus. Die Verfilmung scheiterte trotzdem – auch weil »Fight Club«-Regisseur David Fincher das Interesse am Projekt verlor. Jetzt ist der Film doch noch erschienen. Auf Netflix kann man sich seit Freitag zwei Stunden lang dem selbstzerstörerischen Wahnsinn von Mötley Crüe hingeben.

Der Film zeichnet wenig überraschend das Leben der toupierten Glam-Rock-Band aus L. A. nach. Nikki Sixx (Douglas Booth) verlässt Anfang der Achtziger seine alte Band und trifft Tommy Lee (Machine Gun Kelly), der sich in die Hosen seiner Schwester quetscht und permanent zwei Drumsticks zwischen seinen Fingern herumwirbelt. Die beiden wollen eine Band gründen. Mick Mars (Iwan Rheon) stößt via Zeitungsanzeige dazu, bläst mit seinem Marshall-Verstärker mal eben seinen Hippie-Konkurrenten an der Gitarre um – und fertig ist die Band. Fast. Mit Vince Neil (Daniel Webber) drückt man einem blonden Engel das Mikrofon in die Hand und braucht einen Namen für den zusammengewürfelten Haufen. Mars grinst: »Ich habe lange auf diesen Moment gewartet.« Mötley Crüe soll die Band heißen.

Sex, Drugs und ein bisschen Rock’n‘Roll
Es ist der Auftakt zu einer knapp zweistündigen Aneinanderreihung von Sex- und Drogenszenen, die nur von knapp am Musical-Kitsch vorbeischrammenden Konzerteinlagen unterbrochen werden. Gevögelt wird im Proberaum, Backstage und im Puff. Die Frauen sind in den Augen der Bandmitglieder abwechselnd »Bitches« und »Nutten« und werden von ihnen so schnell gewechselt wie Reifen in der Formel 1. Regisseur Jeff Tremaine, der sich vor allem mit der Umsetzung der »Jackass«-Filme einen Namen gemacht hat, setzte bei der Umsetzung der Mötley-Crüe-Buchvorlage auf toxische Männlichkeit und die drei für ausgewählte Männerfilme der 1960er-Jahre bewährten Bs: Brüste, Bikinis und Blowjobs. Letztere vorzugsweise von unter Tischen knienden Pornosternchen. »Too fast for love« – so war das also als authentischer Macho-Rockstar in den Achtzigern.

Nebenbei wird ordentlich gesoffen. Weil davon selbst der coolste Pudelrocker irgendwann müde wird, jagen die Fönfrisuren von Mötley Crüe genügend Koks durch ihre Nasenlöcher, um eine mittelgroße Kleinstadt für drei Wochen wie überdrehte Managertypen durch die Gegend hetzen zu lassen. Die Hemmungen fallen schließlich mit gut für die Kamera positionierten Jack-Daniels-Flaschen. Klar, die Mischung macht’s, da katapultiert man schon mal die Hoteleinrichtung aus dem Fenster. Oder zerschellt den Porsche im Gegenverkehr. Wer »The Dirt« gelesen hat, weiß: Sänger Vince Neil fuhr im Orwellschen Jahr besoffen zum Supermarkt, crashte seinen Sportwagen und tötete den Beifahrer. Der anschließende Fluchtversuch und die zwei Millionen Dollar Schadenersatz, die Neil dafür zahlen musste, verheimlicht uns der Film zwar. Dafür wird zwei Schnitte später wieder fleißig herumpenetriert, gekotzt und Fake-Koks von spiegelnden Silbertabletts gezogen. Das passt zur eskapistischen Darstellung der Bandmitglieder: Ungeschütztes Ausleben der Triebe paart sich mit manischem Hang zur drogeninduzierten Selbstzerstörung und formt einen Lebensstil, der allen Beteiligten, einschließlich dem Bon-Jovi-gequälten Tourmanager den Blutdruck in die Höhe schießen lässt.

Mötley Crüe agieren als Karikaturen ihrer selbst
Die Band suchte den Rausch. Ohne stimmungsaufhellende Substanzen ging es nicht – mit allerdings bald auch nicht mehr. Leider sehen die Protagonisten im Film viel zu gesund aus, um abhängige Rockstars auf ihrer täglichen Mission nach dem nächsten Kick zu mimen. Wochenlange Alkohol- und Drogenexzesse werden weggesteckt wie ein Besuch beim Bikram-Yoga am Sonntag. Selbst der zeitweise heroinabhängige Nikki Sixx, der im Krankenwagen mit zwei ins Herz gerammten Adrenalinspritzen aus dem Koma schreckt, sieht aus, als käme er geradewegs von einem ausgedehnten All-inclusive-Urlaub in der Karibik. Das mag der Hollywood-adaptierten Zementierung des eigenen Heldenmythos geschuldet sein. Unglaubwürdig ist es trotzdem. Mötley Crüe wirken im Film wie Puppen, denen man mal eben eine Perücke auf den Kopf geklatscht und etwas Eyeliner um die Augen geschmiert hat. Karikaturen ihrer selbst. Schade.

Um Musik geht es im Streifen übrigens auch. Schließlich haben Mötley Crüe in ihrer Karriere über 50 Millionen Alben verkauft. Mit Songs, die sogar den Bandmitgliedern sehr ähnlich aussehenden Pudeln die gekräuselten Hundehaare aufgestellt hätten. Dass das in exzessiven Rauschabfolgen untergeht, ist egal. Das ewige Gekreische über Sex, Drogen und die eigene Geilheit war schon zu aktiven Zeiten der Band ein Graus. Eigentlich ganz gut, dass Regisseur Tremaine den musikalischen Aspekt im Film einfach weglässt. Vielleicht war das ohnehin im Sinn der Band. Diese hat den Film schließlich mitproduziert. Dafür dürfen wir dabei zusehen, wie Ozzy Osbourne in aller Öffentlichkeit seine eigene Pisse aufleckt und eine Line Ameisen vom Boden rüsselt. Lustig. Für einen zweistündigen Film aber auch sehr, sehr wenig.

Dem Film fehlt es an »Dirt«, an Schmutz und Dreck, an einer überzeugenden Darstellung des Werdegangs und nicht zuletzt an einer ordentlichen Maske. Die Figuren sind zu glatt, die Kostüme zu grell, die falschen Haare zu schön. So wunderbar grauslich die Biografie der Band auch sein mag, der Film scheitert mit dem Versuch, das Gefühl der weggedröhnten Achtziger mitsamt dem Trash-verdächtigen Potenzial von Mötley Crüe auf den Bildschirm zu bringen. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was ein genialer Visionär wie David Fincher aus dem Material hätte anstellen können. Dafür ist es leider zu spät.

Link: https://www.netflix.com/at-en/title/80169469

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