Die Welt brennt und ihr geht ins Kino! Unter diesem provokanten Motto stellte sich die Diagonale 2016 dem Publikum und hinterfragte die reine Zerstreuungsfunktion des (heimischen) Kinos. Vielmehr sollte die Diversität und Vielfalt des österreichischen Films dargestellt werden. Personifiziert wurde dieses Vorhaben in der diesjährigen Reihe »Zur Person«, die heuer erstmals nicht nur RegisseurInnen präsentierte, sondern sich künftig für alle Departments öffnen soll. Mit Gabriele Kranzelbinder wurde diesmal eine österreichische Produzentin gewürdigt, die diese Vielfalt verkörpert. Aber auch das Programm eröffnete völlig neue (Gedanken)Räume und Erkenntnisse.
Da ist zum einen Nadiv Molchos Spielfilm »History of Now«. Der gebürtige Wiener lebt zwischen L. A., New York und London, ein Amerikaner in Wien also, der seine auf biografischen Erlebnissen basierende Liebesgeschichte in Wien und Marokko spielen lässt. Nadiv Molcho wollte etwas Neues im Kino zeigen, den »Alltag des großen Unspektulären«, wie es im Katalog der Diagonale heißt, er wollte ein neues, romantisches Wienbild schaffen. Die Betonung liegt auf wollte. Entstanden ist eine belanglose Geschichte eines Paares, die schon tausend Mal – und besser, man denke nur an Maren Ades »Alle Anderen« – im Kino erzählt worden ist. Der in Eigenproduktion von Neni Films hergestellte Spielfilm ist ein Familienprojekt. Nadiv Molchos Eltern Samy und Haya Molcho, bekannt als Köchin der Neni Produkte, spielen nicht nur mit, sondern rühren auch die Werbetrommeln für ihr eigenes Unternehmen.
Zum anderen begeistert der sowohl formal als auch inhaltlich interessante Spielfilm »WIN WIN« von Daniel Hoesl, der bei seiner Produktion um jeden Cent kämpfen musste. In streng komponierten, absurden Bildern wird damit nicht nur im Film selbst der Wert des Geldes in Frage gestellt, wofür er den Preis für das beste Szenenbild und Bildgestaltung einheimste.
Daniel Hoesl: »WINWIN«
Kriegsbilder
Die einschlagenden Bomben lassen sogar die Schriftzeichen des Vorspanns erzittern. Der Eröffnungsfilm der Diagonale, »Maikäfer flieg« von Mirjam Unger, beginnt in den Trümmern des zerbombten Familienhauses der kleinen Christine Nöstlinger (Zita Gaier), auf deren autobiografischen Roman der Film basiert. Kurz vor Ende des Krieges flüchtet die Mutter, gespielt von Ursula Strauss, die für ihre Darstellung als »resolute Mutter« den großen Diagonale-Preis als beste Schauspielerin bekommen hat, mit ihren beiden Töchtern in die leerstehende Villa ihrer ehemaligen Arbeitgeberin. Kurz darauf erscheint deren Schwiegertochter mit ihrem Sohn. Christines geliebter Vater (Gerald Votava) desertiert und lebt schwer verletzt und versteckt mit seiner Familie – bis die Russen kommen und das Haus besetzen. Mirjam Unger erzählt aus der Perspektive des Kindes von der berüchtigten Stunde null, einer gesetzlosen Zeit wischen Krieg und Kriegsende, voller Ungewissheit, Angst und Hoffnung. Sie schafft es das Gefühl zwischen Spannung und Gefahr, aber auch das lang erwartete Aufatmen und die aufkeimende Fröhlichkeit einzufangen, besonders durch die unbekümmerte Neugier der jungen Christine Nöstlinger. Der Alltag eines Kindes im Krieg ist aktueller denn je und macht den Film allein schon deswegen absolut sehenswert.
Um die spektakulärsten Bilder vom Krieg kämpfen die Protagonisten in Barbara Eders neuesten Spielfilm »Thank you for Bombing«. In drei Episoden zeigt Eder drei Reporter und ihre Ambivalenz zwischen Moral und Sensation. Wie weit geht man für seine Karriere, für eine gute Story oder für einen Film? Barbara Eder und ihr Team sind selbst nach Kabul gereist und mussten ihren Dreh vor Ort nach Bombeneinschlägen nach Jordanien verlegen. Erwin Steinhauer wurde für seine Darstellung als Auslandskorrespondent, der einem vergangenen Trauma erliegt, als bester Schauspieler ausgezeichnet. Ein absolut empfehlenswerter Film, der uns zeigt, wie Berichterstattung funktioniert.
An die Front wagt sich auch Kurdwin Ayub in ihrem Dokumentarfilm »Paradies Paradies«. Als ein Porträt ihrer Familie, und besonders ihres Vaters, der den Auftritt vor der Kamera sichtlich genießt, und der Vermittlung eines neuen Blickes auf den Nordirak changiert Ayubs Film zwischen Performance-Videos, Ironie und bitterem Ernst und wurde dafür für die beste Bildgestaltung in einem Dokumentarfilm mit einem Diagonale-Preis ausgezeichnet.
Kurdwin Ayub: »Paradies Paradies«
Premieren
Was macht einen Menschen zum Mörder? Eine junge Frau wird von ihrem Geliebten ermordet, dann zerstückelt und die Leichenteile werden anschließend in ganz Wien verteilt. Wer ist zu so einer Tat fähig? Dieser Frage versucht David Clay Diaz in seinem Spielfilm »Agonie« auf den Grund zu gehen und begleitet dabei zwei junge Männer, deren soziale Herkunft und Lebensumstände unterschiedlicher nicht sein könnten.
Ein persönliches Highlight stellte aber die Premiere und Uraufführung von »Shops around the corner« dar. 2007 gibt der Filmemacher Jörg Kalt der befreundeten Cutterin und Regisseurin Nina Kusturica sein 1997 in New York gedrehtes und seitdem nicht fertig gestelltes Material zu »Shops around the corner« – im selben Jahr verstirbt Kalt. Nach jahrelangem Zögern und Materialbeschau hat Nina Kusturica einen wunderschönen Film fertig gestellt, der die Frage nach Identität und Heimat stellt. An der Ecke Little Italy und China Town spürt Kalt die Geschichten der dort ansässigen Geschäfte auf, begibt sich auf die Spuren von Robert De Niro und Martin Scorsese und glaubt sich in mafiosen Machenschaften zu verstricken. Ein lebensfroher Film an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion. Ein Porträt eines New Yorks, das es so nicht mehr gibt und nicht zuletzt auch ein liebevolles Porträt über den Filmemacher selbst, dessen Präsenz durch die ganze Diagonale geisterte.
Nina Kusturica: »Shops Around the Corner«