An den heißen Tagen verstopfen tausende bis zum Rand beladene Lastwagen, hupende Taxis und Millionen PKW müder Pendler*innen die Straßen von Guatemala Stadt. Die berüchtigten roten Stadtbusse hinterlassen minutenlang in der lärmerfüllten Luft stehende Abgaswolken, wenn sie von einem ihrer je nach Gelegenheit gewählten Haltepunkte in den ewigen zähen Verkehrsstrom der Hauptstadt zurückkehren. Wie herausfordernd die Stadt tagsüber ist, bemerkt man eigentlich erst nachts. Geisterhaft leer sind die Straßen, wenn es dunkel wird. Gitter heruntergezogen, Türen und Fenster fest verschlossen. Nachts, wenn die bewaldeten Bergketten der Umgebung und der sonst am Horizont rauchende Vulkan Fuego in der Dunkelheit verschwunden sind, ist es richtig gefährlich, in der zentralamerikanischen Millionenmetropole noch auf der Straße zu sein. Die Nacht ist ein Hohlraum des Geschehens in einer Gesellschaft, in der ein weit überwiegender Teil der Menschen als ein Heer schlecht bezahlter Diener*innen oft mehr als zwölf Stunden an allen sieben Wochentagen arbeitet, stiehlt, raubt oder beschützt, um leben zu können. Hinter Mauern, von Wachleuten gesichert, amüsieren sich nur die Glücklichen, während die anderen sich mehr schlecht als Recht an diesem Amüsement verdingen.
Hohlräume der täglichen Routinen
Der attraktive alleinerziehende Vater Koki gehört zur eher fragwürdigen Sorte solcher Dienstleister. Als charismatischer Stadtführer lenkt er aufgedrehte Backpacker*innen in die Fänge seines Zuhälters Carlos, der sie um ihr Hab und Gut erleichtert. Am Abend zieht Koki dann durch die Bars, um Männer zu verführen. Mit ihnen landet er, das ist der Deal, in den Betten von Carlos’ Hotel. Auch das geht für die Kundschaft in der Regel nicht gut aus. Während Koki vor Tagesanbruch mit seinem Motorrad durch die geisterhaft leeren Straßen der Stadt von seiner düsteren Routine nach Hause fährt, unter unstet blinkenden, im Wind an ihren Drähten baumelnden Straßenleuchten an der Ampel wartet – ja, worauf überhaupt? – und nachdenkt – worüber? – beginnen wir, aufmerksam zu werden auf die symptomatischen Momente in den Zwischenräumen des Handelns, die Augenblicke des Nachdenkens, des Überlegens. An diesen Stellen müsste es passieren – wenn es denn überhaupt möglich ist, einen klaren Blick auf die Bedingungen des eigenen Daseins zu bekommen. In diesen Momenten des Wartens müsste es doch möglich sein, einmal innezuhalten, um das träge Schicksal mit dem nächsten klugen Schritt endlich einmal selbst zu lenken.
»Siehst du denn die Geister nicht?«
Unter den Figuren von Sebastián Lojos »Los Fantasmas«, der Ende Januar in Rotterdam Weltpremiere feierte, sind es vor allem die Jüngeren, die viel zu überlegen haben. Auch Sofía ist so ein Fall. Ihre Beziehung zu Koki ist vage. Ihren drögen Job in einer Boutique erträgt sie mit hängenden Schultern. Jede ihrer Gesten versucht sich festzuklammern an einer möglichen Antwort auf nie gestellte Fragen. »Siehst du denn die Geister nicht?«, fragt Koki sie. Sofía sieht sie nicht. Allzu oft ist es doch so, dass wir nur sehen, was wir gewohnt sind, zu sehen. Dass wir keine Ahnung haben, was passiert. Erst recht nicht, was passieren soll. Zum Denken braucht man Raum und Zeit. Man braucht die Zwischenräume zwischen Notwendigkeiten und Verpflichtungen. Man benötigt die Hohlräume im täglichen Kampf. Die Uhr zeigt 6:00 Uhr morgens, als Koki schließlich nach Hause kommt. Seine Mutter wartet dort schon mit seinem kleinen Sohn auf ihn. »Du hast Verantwortung«, erinnert sie ihn. Ein routinierter Schichtwechsel zwischen zwei Personen, die eigentlich auf Leben und Tod miteinander verbunden sind. Sitzen denn nicht beide in derselben Scheiße? Wo sind Mitleid und Empathie? Wo ist der Einsatz, den man füreinander bringt, um sich mit vereinten Kräften aus dem ganzen Mist herauszuziehen? Diesen Einsatz muss man sich erst einmal leisten können, leisten durch Zeit und Energie. Liebe muss man sich leisten können sowie auch Planung, Hoffnung, Strategie.
Fatale Freiheit
Als Koki eines Abends wieder einmal auf Aufriss geht, entdeckt ihn eines seiner früheren Opfer. Man schleift ihn auf die Straße und prügelt ohne Hemmung wütend auf ihn ein. In diesem Moment verwandelt er sich selbst in einen seiner Geister. Hinter den Säulen und um die Ecke steht er als Beobachter vor dem Leben, in dem er festgefahren war. Manchmal braucht es zur Erlösung die Katastrophe. Die Bilanz dieses ruhigen, rhythmischen, jedoch schwer im Magen liegenden Filmdebüts ist ernüchternd. Aus all seinen sorgfältig komponierten Szenen spricht das Phlegma einer unsichtbaren Unterdrückung. Wo Fürsorge fehlt, dominiert eine fatale Freiheit. Das Erbe einer jahrzehntelang andauernden autoritären Machtausübung und einer rassistischen Ideologie verbindet sich im heutigen Guatemala auf tragische Weise mit der totalen Abwesenheit sozialer Regulierung. In kaum einem anderen Land der Welt gibt es mehr private Helikopter und Flugzeuge. Dabei lebt andererseits mehr als die Hälfte der 17 Millionen Einwohner*innen des Landes, von dem sich Donald Trump verspricht, dass es die unter noch mieseren Bedingungen leidenden Migrant*innen aus Honduras und El Salvador an der Weiterreise nach Norden hindert, in teils extremer Armut. Lojos Beobachtungen der Selbstentfremdung und des Mangels an Solidarität unter den Bedingungen dieser unfassbaren Ungleichheit halten auch für unser hiesiges, häufig paranoides Verhältnis zur gegenseitigen Verantwortung eine Lektion bereit.
Können Geister fühlen?
Eine Gesellschaft, die ihren Individuen keine Energie für Vertrauen und Solidarität übriglässt, macht sie zu Geistern. Das zugrundeliegende Phlegma scheint sich aus entgegengesetzten Gründen auf die Besitzlosen der Welt ebenso zu erstrecken wie auf den liberalen Teil von Konsumgesellschaften. Der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho sprach in seinem bis in die Sphäre kalifornischer Akademiepreise vorgedrungenen Erfolgsfilm »Parasite« eine vergleichbare Problematik an. Jedoch voller klassischer Kinoeffekte. Liebe und Hass, die großen Kinogefühle, das ist klar, sind nichts für Lojos Geister, die zur Möglichkeit des Fühlens und Wollens gar nicht mehr gelangen. Muss nicht ein Film über sie notwendigerweise eine Erzählung ohne Tragik und Komik sein? Auf die Frage, ob diese unterkühlte Welt noch Stoff für einen wirkungsvollen, für einen schönen, für einen aufregenden Film ergeben kann, gibt »Los Fantasmas« die beste Antwort.
Die als politisch ambitionierte Gegenveranstaltung zur Berlinale geltende Woche der Kritik findet von 17. bis 22. Februar 2020 im Hackesche Höfe Kino, Berlin statt. »Los Fantasmas« von Sebastián Lojo (Gua/Arg, 2019, 76 Minuten) ist am Samstag, dem 22. Februar 2020 um 20:00 Uhr zu sehen.
Link: http://wochederkritik.de/de_DE/programm-2020/anmut-irreal-los-fantasmas-america/