Fotos: ©  Petra Rautenstrauch
Fotos: © Petra Rautenstrauch

Freedom Theatre Jenin im Dschungel Wien, 4. 11. 2011

»They became complicated, mad people« - Die Protagonisten beschäftigen sich mit boshaften Spielen, stellen Körperkontakt auf boshaft her. Fluchtlinien abgeschnitten.

Die Szenerie erinnert mich an das Konzert von Let Tri aus Rijeka in Ljubljana Ende der 1980er Jahre. Während Let Tri aber nackt und mit Schlamm verschmiert auf der Bühne standen und stanken, nach ihrem Kassetten-Titel »Dog’s Fucking« über- und untereinander auf der Bühne herum hoppelten, geht es in dem Stück »Sho Kman« (»Was noch? «) im Dschungel im Wiener Museumsquartier um einige Stufen härter zu: Nebel über der Szene, lautes Flugzeugdröhnen, Luftangriffe, Schauspieler stürzen herein, Hände über den Kopf geschlagen, gebeugt, kriechend und eilend wie Käfer. Lautstarker Beschuss von allen Seiten. Schwarz gekleidete, muskelbepackte Jugendliche vom Flüchtlingstheater Jenin im Westjordanland zeigen Fragmente ihres Lebens. Die Kids klammern sich aneinander und um die nötige Distanz zu erreichen, brüllen und schreien sie sich gleichzeitig an, Wut und Gewaltausbrüche folgen. Kaum ist der Folterer, der Wärter, der Sadist, der eine rote Baskenmütze, langen dunklen Mantel, Stiefel, eine schwarze Maske vor dem Gesicht und ein Lederarmband mit Nieten trägt, verschwunden, quälen sie sich gegenseitig, gehen wie wilde Tiere aufeinander los, amüsieren sich mit Erniedrigungen und Demütigungen – ein Inferno. Währendessen beobachtet der Sadist von einer Empore aus ruhig und gespannt das Geschehen, um sich in einem langen Raubtiersprung aus ein paar Metern Höhe wieder unter die Gefangenen zu schmei&szligen und amüsiert lachend Entsetzen zu erzeugen.

Gewalt als Ventil

Das Freedom Theatre Jenin sperrte nach der Ermordung seines Direktors Juliano Mer-Khamis am vierten April dieses Jahres durch unbekannte Täter die Türen des Theaters zu und die entsetzten Jungs begannen zu proben. Am Rande der Stadt Jenin liegt das ärmste, am meisten attackierte und brutale Flüchtlingscamp im Westjordanland, hier leben 17.000 Menschen, darunter 3.000 Kinder auf engstem Raum. Das Lager ist von einem elektrischen Stacheldraht-Zaun umgeben. Selbstmord-Attentäter wuchsen hier auf und nahmen, salopp gesagt, die Abkürzung in ein ruhigeres Leben.

Während bei den Konzerten von Let Tri die Punk bzw. Rockmusik oft weich wirkte – trotz damals über achtzig Hardcore Bands in der abgefuckten Hafen/Industriestadt Rijeka – und auf einem eher melodiösen Weg wandelte, geht es hier auch musikalisch radikal zur Sache (ich höre gerade die radikale Alice Coltrane: »The Impulse Story« auf ihrer bockigen Harfe). In einer bedrohlichen Tanzperformance wird in einer Art Rap-Anklage tiefem Schmerz und Wut Ausdruck verliehen. Tiefer Schmerz – dieser Sprechgesang ist weder melodiös noch rhythmisch, aber voll verzweifelter Emotionen. Man kann ihre Wut verstehen, will aber mit keinem dieser Jugendlichen alleine in einem Zimmer oder gar in einer Zelle sein.

Lust des Sadismus

Es geht auch um Lust in diesem Stück, und das erzeugt Bauchschmerzen und Nägelbei&szligen bei den ZuschauerInnen – um sadistische Lust, Lust an der Erotik der Dominanz und der Erotik der Angst. Lust, die man übernehmen kann, um sich abzureagieren, um ein Ventil in diesem Horrorszenario zu finden, Lust aber auch, gegen die es schwer ist sich zu wehren, da ein anderer seinen Spa&szlig, sein Vergnügen darin findet. Soll das Stück »Sho Kman« eine Immunisierung vor dieser Lust bewirken?! Die Protagonisten beschäftigen sich mit boshaften Spielen, stellen Körperkontakt auf boshaft her – als die einzige Form von Annäherung, die unter diesen gewaltvollen Umständen möglich ist.

Und das ist der wahre Horror: »Hier geht es um Gewalt, die nicht notwendig ist. Die Jugendlichen können nicht ohne Gewalt miteinander umgehen«, erklärt die englische Dramaturgin Zoe später bei der Diskussion, die als einzige Ausländerin nach der Ermordung Julianos bei den Jugendlichen in Jenin blieb. Alle anderen flüchteten aus dem Flüchtlingslager. Der zähe und gedankenlose Sadist des Stückes, der wohl selbst Komplex-Traumatisierte, der sich mit den Tätern identifiziert hat, der auf realen Ländergrenzen und historischen Abgrenzungen gezüchtete »Borderliner« ist im echten Leben ein dünner Junge – kaum wiederzuerkennen. Der erzählt, dass er nach der Ermordung Julianos drei Wochen nichts essen konnte. Er fühlte sich wie ein Stein. Er musste ins Krankenhaus und schaut noch immer abgemagert aus.

Auf so engem Raum unter so gefährlichen und bedrohlichen Bedingungen leben zu müssen und nicht weg zu können, als Flüchtlinge im Flüchtlingslager Jenin hinter dem Elektrozaun allen anderen ausgeliefert und ohne Fluchtmöglichkeit erweist sich als Hardcore für die BewohnerInnen – »They are not easy. They became complicated, mad people«, erklärt ein anderer junger Schauspieler seines echten Lebens.

Während es in der Ausstellung »Zukunft der Tradition, Tradition der Zukunft« (Haus der Kunst, München 2011) noch Fluchtlinien zu sehen gab, die in der arabischen Kunst nach oben in den freien Himmel zeigten, in Philosophie und Religion, gibt es hier scheinbar keinen Ausweg mehr, der Enge und den Zwängen dieser Gesellschaft zu entkommen. Die unbedingt notwendigen Fluchtlinien, die jede Gesellschaft braucht, um überleben oder sich reformieren zu können, zeigen gewaltvoll in die Körper der Menschen hinein.

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Fotos: © Petra Rautenstrauch

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