Bei der Ankunft liegt ein dicker Schleier aus Nebel und Regen über Posen (polnisch: Poznan), der sich in den nächsten Tagen nur dezent verziehen wird. Dafür ist der Empfang umso herzlicher. Agata Grenda und Lukasz Szalankiewicz, meine Kontaktpersonen vor Ort während des Posen-Trips, packen mich ins Auto. Der Experimentalelektronikmusiker Szalankiewicz würde mir gerne seine neuesten Tracks vorspielen, Grenda dagegen mir von Posen erzählen. Sie ist die Direktorin der Kulturabteilung des Marschallamts der Woiwodschaft Wielkopolska und koordiniert die internationalen Einladungen des Malta-Festivals. Wir einigen uns auf Halbe-Halbe, staubedingt ist die Fahrt vom Flughafen Lawica zur ersten Location recht lange.
»Wusstest du, dass Posen eine der ältesten Städte Polens ist und in der Kathedrale die ersten Herrscher des Landes beerdigt sind? Posen war eine der ersten polnischen Städte, die von den Nazis 1939 besetzt wurden. 1945 kam es zur sogenannten Schlacht um Posen zwischen den Deutschen und der Roten Armee. Der beiderseitige Terror dieser Jahre kostete mehr als einem Zehntel der Bevölkerung das Leben und die Stadt wurde zu rund 80 % zerstört. Wir haben hier besonders Industrie, Wirtschaft, Gewerbe und eine sehr große Universität. Mit dem seit 1991 stattfindenden Malta-Festival ist Posen auch künstlerisch zu einer Marke geworden. Das Festival hat seinen Namen von dem 1952 angelegten Maltasee, wo es in den ersten Jahren abgehalten wurde. Du fragst dich vielleicht, warum »Malta«? In der Nähe des Sees befand sich früher eine Residenz der Malteserritter. Das Malta-Festival ist mittlerweile ein einmonatiger Kunst- und Kulturevent mit an die 300 Veranstaltungen und circa 600 KünstlerInnen. Interessierst du dich für modernes Theater, zeitgenössischen Tanz oder Elektronikmusik? Bekommst du hier alles.« Später wird sie mir noch erzählen, dass Reichspräsident Paul von Hindenburg und der Philosoph Zygmunt Baumann in Posen geboren wurden.
Mittagessen im Teatr Nowy, Zeit für erste Verarbeitungen der Eindrücke. Eine Woche zuvor hatte ich mir in Wien einen Stadtführer kaufen wollen, war aber nicht fündig geworden. Quasi versprengte Informationen zusammengesammelt: Das praktisch genau zwischen Berlin und Warschau gelegene, heute an die 550.000 Einwohner zählende Posen war als Hauptstadt der Region Wielkopolska (Großpolen) bis zum Zweiten Weltkrieg eines der wichtigsten Handels- und Kulturzentren des Landes. Der preußische Architekt Joseph Stübben hatte Anfang des 20. Jahrhunderts den Auftrag bekommen, ein repräsentatives Stadtviertel zu planen, und Kaiser Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser, hatte sich hier sein Residenzschloss bauen lassen. Die Posner sagen Kaiserschloss (Zamek Cesarski w Poznaniu) dazu. Der Wódka Wyborowa stammt aus Posen. Also nun, das Teatr Nowy, das neue Theater: ein im Inneren höchst charmanter Bau mit moderner Bühnengestaltung und einer Bar, die es vom Hipness-Faktor her mit jeder Bar in Berlin-Mitte aufnehmen kann. Ein eigentümliches Flair aus Nostalgie, DIY und Trotzigkeit umwölkt das Teatr Nowy.
Am Nachmittag die nächsten Stationen: der Plac Wolnosci (Freiheitsplatz), der Hauptaustragungsort des Malta unter Tags. Man hat ein Partyzelt, Stände und Buden aufgestellt, im Rahmen der Reihe »Generator« beschallen die Konzerte von British Sea Power, Gin Ga und der sehr coolen Jessie Evans die Innenstadt. Dann ist auf dem Plac Wolnosci Volksfeststimmung angesagt. Etwas beschaulicher ist es rund um die Stary Browar (Alte Brauerei), die sich auf einem kleinen, touristisch wertvollen Marktplatz befindet. 2004 zog in die Stary Browar das Studio Slodownia +3 für zeitgenössische Choreografie ein, mittlerweile sind die sehr modern-urban gestalteten Räumlichkeiten einer der Fixpunkte für aktuelle Kunstproduktion.
Jessie Evans (Marcin Oliva Soto)
Das Mensch-Maschine-Interface
Heuer zeichnet bereits zum dritten Mal der italienische Theater-»Visionär« Romeo Castellucci als künstlerischer Leiter für das Malta-Festival verantwortlich. Seitdem gibt es auch die Serie »Idioms«, die sich aus vornehmlich theoretischer Perspektive dem jeweiligen Festivalthema annimmt. Thema heuer: »Oh Man, Oh Machine«. So verdichten sich während des Festivals unterschiedlichste Zugänge aus Tanz, Theater und Performance, aber auch Musik und Audiovision zu zeitgemäßen Standortbestimmungen von Techné und ihren paradoxen Ausformungen zwischen Apparaten des Inszenatorischen und des Imaginären. Also das, was Foucault Biopolitik genannt hatte.
Da liegt einer der Höhepunkte der ersten Festivaltage auf der Hand: das 3D-Konzert von Kraftwerk in der Stara Gazownia, ein Gelände mit einem industriellen Backsteincharme wie die Wiener Arena, allerdings fünfmal so groß. Kraftwerk spielen ihre Hits, so gut wie jeder singt die Texte mit. Eine routinierte Show, zweifellos.
Spannendes findet indes woanders statt, wie hier: »Dom lalki« (»Das Puppenhaus«) in der Regie von Michal Siegoczynski im Teatr Nowy. Henrik Ibsens Drama »Nora« wird in ein Heute transferiert, in dem Promi-Shows, Star-Allüren, Sprachlosigkeit und Facebook-Kommunikation die eigentlichen Hauptrollen spielen. Es ist eine durchrationalisierte Welt, die Anerkennungsdefizite als Blitzlichtgewitter externalisiert, die »Wüste des Realen« als gut zweistündige tour de force durch technisierte Gefühlszustände.
»Dom lalki« (Bartlomiej Sowa)
Weniger Affirmation des Technischen, dafür eine des Rituals liefert die Choreografin Gisèle Vienne mit ihrem Stück »Der Scheiterhaufen«. KTL (Stephen O’Malley/Pita Rehberg), mit denen sie seit ein paar Jahren regelmäßig zusammenarbeitet, ziehen schwarzmetallischen Drone-Flächen zu Bühnentableaus auf, die Sprache, Text und Körper mal festgefroren, mal schweißtreibend gegeneinander ausspielen.
Gisèle Vienne (Maciej Zakrzewski)
Auch Castellucci ist mit einem Programm vertreten. Es nennt sich »Das Restaurant Vier Jahreszeiten« und nimmt Bezug auf die gleichnamige Bilderserie von Mark Rothko von 1958. Diese Performance quer durch die Kunstgeschichte taucht immer wieder in hypnotische Szenarien ein, die von Matthew Barney stammen könnten.
»Das Restaurant Vier Jahreszeiten« (Christian Berthelot)
Hypnotisch und (alb-)traumhaft gleichermaßen die Multimedia-Performance »Feed« von Kurt Hentschläger (ex Granular Synthesis). Als befände man sich in einem apokalyptischen Rieseninkubator, sorgen Sound, Projektion, Stroboskoplichtblitze und schiere Tonnen von Kunstnebel für immersive Stimmungen, die mindestens so verstörend wie befreiend wirken. Die animierten, scheinbar flüssigen Körper transformieren sich ständig zu neuen, der Noise auf der Tonebene dübelt sich durch die Physis des Publikumskörpers. Rückführung in einen fötalen Primärzustand wäre dafür wohl eine schlüssige Beschreibung. Nach dem Konzert stehen Viele vor dem Seitenausgang der Posner Hochschule AWF mit etwas bleichen Gesichtern herum und diskutieren heftig über das gerade Wahrgenommene. Später am Plac Wolnosci angekommen, lösen sich nach diesem wohldosierten Anschlag auf die Sinne die Schlieren eines Blicks in die Zukunft in fröhlich-abendlicher Marktplatzstimmung auf. Endlich Zeit für den typisch polnischen Sandwich-Imbiss Zapiekanka.
Plac Wolnosci (Marcin Oliva Soto)
Am nächsten Tag fahren wir zum Stara Rzeznia (Altes Schlachthaus) und ich bin sofort an die Arena erinnert. (Sie war ja ursprünglich auch in einem ehemaligen Schlachthof untergebracht gewesen.) Ein Backsteinbau mit signifikantem Turm, einem ausladenden Vorplatz und so groß, dass die Arena flächenmäßig gut zweimal hineinpassen würde. Hier befindet sich das Festivalzentrum für Audiovision und für Installationen. An die dreißig Arbeiten sind versammelt, u. a. Peter Ablingers Klavier-und-Text-Werk »Deus cantato«, »Requiemaszyna« von Marta Górnicka, die »Cyberpflanzen« von Patryk Lichota, der Triptychon »Where Is My Mind?« von Rafal Zapala und die Videoinstallation »The Host« von Marta Heberle über mutierende Viren, des Weiteren werden Tino Seghals Performance »Ann Lee« und David Cronenbergs Verfilmung von »Crash« gezeigt.
Peter Ablinger (Marcin Olivia Soto)
Was trotz all des Status quo der Ausstellungen an dem Stara Rzeznia irritierend wirkt: in einer westeuropäischen Metropole wäre ein Ort wie dieser sehr wahrscheinlich bis unters Dach mit Installationskunst vollgestellt, in diesem Bau überwiegen eher die Leeräume. Kahle Betonwände herrschen vor und seltsamerweise gibt es kaum Graffiti auf dem Areal. Gut, das Gebäudeensemble wird erst langsam dem Vergessen entrissen. »Das wäre doch der perfekte Off-Space. Hier könnte man locker mindestens ein Dutzend Künstlerateliers einrichten und Konzerte oder Festivals für tausend Personen veranstalten. Man könnte ein ganzes Kulturzentrum daraus machen. Bei uns würden sich Veranstalter die Finger nach so einem Gelände ablecken«, überlege ich laut in Richtung meiner Begleiterin. Wir kommen überein, mit dem Stara Rzeznia hätte Posen eine ähnliche Einrichtung wie Metelkova in Ljubljana. Man muss Häuserbesetzungen und gegenkulturelle Ûbernahmen im (post-)kommunistischen Zusammenhang anders deuten, Szenen begründeten sich hier anderes. Immerhin gibt es jetzt durch das Malta einigen Verkehr und Austausch. Während des Jahres finden immer wieder Konzerte statt, es ist aber so gut wie keine lokale Infrastruktur vorhanden. Für einen Kaffee müssen wir einen zehnminütigen Fußmarsch in die nächstgelegene Bar unternehmen. Dieser Ort hat enormes Potenzial, es fehlen bislang politische Bekenntnisse für Investitionen in kulturelles Kapital. Im Laufe der folgenden Tage wird Stara Rzeznia für mich zum Zeichen einer sich erst langsam konstituierenden Alternativkultur der Stadt.
Vom Kaiserschloss zum Kulturzentrum
Dass alternative Lesarten urban-geschichtlicher Faktoren auch für Posen funktionieren, macht das in einem Seitentrakt des Kaiserschlosses untergebrachte Kulturzentrum Zamek deutlich. Der amerikanische Journalist Alan Lockwood, einer der Kollegen in der vom Marschallamt eingeladenen Delegation, befasst sich seit Langem mit polnischer Politik und Kultur, er war von den Filmen von Andrzej Wajda »angefixt« worden. Seit gut zwei Jahren residiert er nun in Warschau. Während eines Drinks in der Zamek-Bar erzählt er von der großen Geschichte der Stadt und ihren immensen Schwierigkeiten, nachdem hier alles in Schutt und Asche gelegt worden war. Ich will wissen, was es mit der Stele am Eingang des Schlosses auf sich hat. Lockwood berichtet von den Posner Mathematikstudenten Mirian Rejewski, Hendrik Zygalski und Jerzy Rózycki, die ab den frühen 1930er Jahren auf immer mysteriösere Weise in alliierte Kryptologie-Geheimaktionen eingebunden und während des Kriegs entscheidend an der Dechiffrierung der deutschen »Enigma«-Maschine beteiligt gewesen waren. Würde diese Stele in den USA stehen, wäre sie wohl eine Pilgerstätte für Fans der »Matrix«-Filme, grinst Lockwood. Wir stellen uns vor, dass Thomas Pynchon während seiner Recherchen für »Gravity’s Rainbow« von der Stele Fotos gemacht hätte. Ûberhaupt sei der Gebäudekomplex Zamek ein Symbol für die Stadtgeschichte der letzten hundert Jahre: aus dem Jahrhundertwende-Schloss waren die »Führerresidenz«, dann Lazarett, Universität und Stadtverwaltung und schließlich in den 1960ern ein Kulturzentrum geworden.
Später bekommen wir eine Führung durch die alten Teile des Schlosses, SchauspielerInnen mimen markante Ereignisse. Nach Plänen von Franz Schwechten wurde es von 1905 bis 1913 im neoromanischen Stil gebaut und ist einer Königspfalz nachempfunden. Es ist, als ob Fritz Langs »Nibelungen«-Filme Pate gestanden hätten, es ist der gebaute feuchte Traum Albert Speers; so stelle ich mir teutonischen Totenkult vor. Nicht zwangsläufig morbide, aber jene seltsame Mischung aus vermeintlich archaischen »Werten«, Wuchtigkeit und aktualisierter Romanik. Mit dem Einmarsch der Nazis wurde das Schloss zur »Führerresidenz« umfunktioniert, aus Kaiser Wilhelms Privatkapelle wurde Hitlers Arbeitszimmer. Es ist das einzige, vollständig erhaltene, derartige Zimmer des »Führers«. Alles wirkt hier sehr beklemmend, es ist, als ob die Marmorwände und die getäfelte Decke aufeinander fallen würden. Selten war mir die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts derart zum Angreifen präsent wie in diesem Raum. Das Schloss wurde schließlich zum Zeichen der Selbsthilfe nach den Kriegswirrnissen sowie zum Symbol des Widerstands und des zivilen Ungehorsams gegen die Regierung im sogenannten Posner Aufstand 1956. – Lesetipp: der 2011 von Zamek herausgegebene Katalog der Ausstellung »Sny o potedze« (»Dreams of Power«) mit Texten von Maciej Szymaniak, Agata Rogos und Jean Baudrillard und Arbeiten von u. a. Šejla Kameric, Susanne Kriemann und Johan Thurfjell. – Die Posner haben zu diesem architektonischen Ungetüm eine pragmatische Beziehung entwickelt, die meisten Räume lassen sich für Veranstaltungen buchen.
Tags darauf bringt uns Anna Hryniewiecka, die Direktorin des Zamek Kulturzentrums, durch ihre Institution. Die monumentalen Hallen wurden zu modernen Räumen für zeitgenössische Kunst und Kultur umgebaut, hier befinden sich Säle für Film-, Literatur-, Tanz- und Musikveranstaltungen, es gibt eine Bibliothek, Galerien, Proberäume, Dokumentationsarchive zur Geschichte Posens und des Schlosses sowie Räume für Workshops und Kinderbetreuung. Man ist mit der quasi entgegengesetzten Atmosphäre wie im alten Schlossteil konfrontiert: weltoffen, dynamisch, dem Experiment zugewandt. Eine Freitreppe windet sich in die oberen Stöcke, signifikant auch die durchgängige Glaskuppel über dem Innenbereich. Zamek ist zudem Austragungsort und Treffpunkt der Festivals Ethnoport (seit 2008; Fokus: Weltmusik), Off-Cinema und Scandinavia In Season (Kooperation mit skandinavischen Kultureinrichtungen).
Engagierte Positionen im schwierigen Erbe
Mit dreißig über die Stadt verteilten Locations ist das Malta-Festival sicherlich eines der Kulturhighlights Westpolens. Ein Programm, das international daherkommt, und trotzdem weiterhin lokale KünstlerInnen nicht als kompensatorisches Feigenblatt verheizt. Familienfreundlich, könnte man sagen. Es ist offensichtlich, dass das Malta den Fokus auf Tanz, Theater und Performance legt, bezüglich aktuell(st)er Pop-, Elektronik- und Avantgardemusik besteht ein gewisser Aufholbedarf. Vielleicht wäre man gut beraten gewesen, für diese Sektionen einen zusätzlichen Subkurator zu implementieren. Denn sowohl Neue Musik wie Clubkultur blieben etwas vor. Gerade letztere hätte sich beim heurigen Thema »Oh Man, Oh Machine« ja mehr als angeboten. Was noch abgeht, ist ein adäquates City Branding, das auf (erweiterten) Clubkulturen aufsetzen könnte.
Posen ist eine Stadt im Um- und Aufbruch, wofür sehr viel getan wird; die Wunden der Vergangenheit sind jedoch tief. Das mit engagierter Programmierung, spannenden Orten, Implementierung lokaler Strukturen und erfreulich kulanten Eintrittspreisen auftretende Malta-Festival zeigt, wie es gehen könnte, Posen als Knotenpunkt für aktuelle Kunst- und Kulturproduktion zwischen Berlin und Warschau zu etablieren.