Am besten gelingt es Festivals und gelegentlich auch besonderen Musikformationen wie Klangforum, Kronos Quartett oder Ensemble Modern die üblichen Distinktionsregeln des klassischen Konzertsaals zu durchbrechen. Ähnliches kriegt das Davos Festival im schwyzerischen Graubünden erfolgreich hin. Von Anfang an strebt es höchste Qualität an, ohne besonders elitär daher zu kommen. Man wird so nach und nach in einen Sog zeitgenössischer Musik gerissen. Als Plattform bietet das Festival noch dazu besonders jungen MusikerInnen aus dem internationalen Spitzenfeld die Möglichkeit, im Zuge längerer Aufenthalte die eigenen Erfahrungen zu schärfen. Vor Ort gespielt und geprobt wird nämlich in unterschiedlichen Kombinationen über acht bis vierzehn Tage. Solche Bedingungen sind angesichts zunehmend verschärfter Verhältnisse außergewöhnlich.
Davos Festival 2015. Eröffnung. RoundAbout. Ensemble Federspiel/Quartett Gerhard © Yannick Andrea
Neben György Ligeti, Steve Reich, Erwin Schulhoff, Mauricio Kagel, Alfred Schnittke oder Helmut Lachenmann, finden sich natürlich auch die üblichen Golden Greats der Kammermusik wie Schubert, Beethoven oder Brahms im Programm. Warum aber nicht Sybelius hören und dann Hanns Eisler. Die Fahrtrichtung weist eindeutig in Richtung 20. und 21. Jahrhundert, selbst wenn das Motto heuer »Kreisverkehr« lautet. Es wurden vom künstlerischen Leiter Reto Bieri außerdem Schnittstellen zur demokratischen Verteilung ganzer Sound- und Klangpakete im öffentlichen Raum eingebaut. Ganz im Sinne von John Cage, dessen Ideen den Ort Davos gleich zu Beginn aufwühlten.
Davos Festival 2015. Eröffnung. RoundAbout. Lukas Rohner © Yannick Andrea
Davos Festival 2015.Ensemble Federspiel. Unerhört Bumm! © Yannick Andrea
Sound Anarchie im öffentlichen Raum
War es im Vorjahr noch das stille Stück »4.33«, so konfrontierte heuer ein wüstes multistilistisches Klanggemisch mit einer Ikone der musikalischen Avantgarde. Es war die auf öffentliche Räume hin gedachte lustvoll anarchische Sound-Performance »Musicircus«.
Bemerkenswert wie spannend der »Circus« mit all seinen divergenten Spielweisen auch heute, ein halbes Jahrhundert nach der ersten Realisierung im Herbst 1967 an der University of Illinois daherkommen kann! Dabei schrieb John Cage keine einzige Note dafür. Wie Marcel Duchamp in der Kunst verfasste er bloß ein Ideenpapier, das die Matrix einer Aufführungsmöglichkeit skizziert. »The piece ›should be fun‹ – people ›should get the joyousness of the anarchic spirit‹.«
Das intendierte Nebeneinander und Ineinander von Unzusammengehörigem und Ungleichzeitigem funktioniert jedoch nur, wenn es mit einem gewissen Ernst umgesetzt wird. So kam es tatsächlich, dass eine der Musikerinnen auf einem ziemlich verstimmten Pianino auf dem Gehsteig Ragtime-Melodien in die Tasten hämmerte, während neben ihr Alphörner geblasen wurden und von der anderen Straßenseite her die frei herumziehenden Musiker einer Brass Band hinzustießen. Dass sich die aus dem Ghetto Blaster dröhnenden Trivialrhythmen der Mädchen Dance-Company Roundabout mit dem ›Umtata‹ der Feuerwehr-Blasmusik verwob, erzeugte wahrlich selten gehörte Fusion-Momente, während unweit davon Querflöte und Chello ein melodiöses Man-weiß-nicht-was drüber legten und der Landwasserchor Davos den akustischen Breitwand-Hintergrund für das Anspielen diverser kammermusikalischer Fragmente in einer Hotellobby entfaltete. Wie in einem Schaustück Peter Handkes brachte ein Musiker währenddessen einen Polsterhocker, einen Sessel und ein Buch immer wieder in eine neue Ordnung; so konzentriert, dass man meinte, um ihn herum würde ein Sog völliger Stille entstehen.
Davos Festival 2015. Musicircus © Yannick Andrea
Avant Garde in Residence
Selbstverständlich haben diese konventionsfernen Klangzusammenballungen in Davos auch vermittelnden Charakter. So etwas schwebte übrigens auch John Cage selbst vor, der bei Ver- anstaltungen wie dem »Festival d’Avignon« durchaus selbst öffentlich auf der Straße aufgetreten ist und den direkten Kontakt gesucht hat.
Bei der achtstündigen »Alpcher Festivalwanderung« spielt dieser Gedanke ebenfalls eine Rolle, auch wenn einem die Gebirgswanderung mit MusikerInnen einiges abverlangt. Vor einiger Zeit hätte man das noch im Kontext jenes Neuen Regionalismus rezipiert, den Hans Magnus Enzensberger in den 1980er Jahren postuliert hat. Das aus Wien angereiste Bläser-Ensemble Federspiel geht aber darüber hinaus, wenn sich dessen Mariachi-Klänge sanft anschleichen oder Joe Zawinul erklingt. Es war ein undogmatisches Nebeneinander mit dem die Musiker im strömendem Regen auf der Open-Air-Bühne punkteten. Denn bis zum letzten Trompetenton harrten die unter ihren bunten, schützenden Schirmen kaum noch sichtbaren Fans aus.
Der Kern des Festivals spielt sich jedoch in Innenräumen ab. Schließlich ist der Weltwirtschaftsgipfel-Schauplatz am Fuße des »Zauberberg« von Thomas Mann auch ein Kongresszentrum mit großartigen Sälen für jeweils ein paar hundert Leute. Doch der für das Festival so signifikante Part passiert hinter den Kulissen: Nicht nur dass Hotels wie das Morosani hervorragende Proberäume (sogar für eine Drummerin) zur Verfügung stellen. Nein! Man leistet sich die Großzügigkeit, einen Star der kom- positorischen Musik während des gesamten Festivals als Composer in Residence nach Davos zu holen. Es ist für 2015 Marc-André Dalbavie, der letztes Jahr genau zu dieser Zeit in Salzburg seine gefeierte Oper über die Ausnahmekünstlerin Charlotte Salomon einstudiert hat. Salomon, deren expressionistische Werke bei der dOCUMENTA (13) zu sehen waren und nun im Salzburger Museum der Moderne gezeigt werden, ist 1943 in Südfrankreich zuerst verraten und – nach ihrer Deportation nach Ausschwitz-Birkenau – von den Nazis ermordet worden.
Eintauchen in die Tiefe der Partitur
Hier in Davos rückt Dalbavie das Politische nicht so sehr in den Vordergrund und erarbeitet mit jungen Musikern fünf seiner kammermusikalischen Werke. Wie produktiv diese direkte Dialogform mit dem anwesenden Komponisten sein kann, lässt sich vielleicht über die Vorstellung erklären, dass das Kammermusik-Ensemble im Gegensatz zu den meisten Jazz- oder Popformationen, die an der Optimierung ihrer eigenen Stücke arbeiten, über die Partitur auch noch mit der außenstehenden Instanz des imaginierten Autors oder der Autorin kommuniziert. Daher liegt die spezielle Heraus- forderung für KomponistInnen darin, etwaige autoritäre Rituale oder gar Star-Allüren gar nicht erst aufkommen zu lassen und eine Atmosphäre der Neugierde und der Wertschätzung zu erzeugen. »Es ist wie den Kindern das eigene Auto zu überlassen«, meint Dalbavie. »Sie fahren es in ihrem Stil und müssen trotzdem in der Spur bleiben.« Eine sanftmütige Untertreibung, denn durch ein paar sehr freundschaftlich und kollegial formulierte Anmerkungen gelingt es ihm, den Charakter von »Palimpseste« (2002) deutlich hörbar zu verändern. Härter und noch mehr konzentriert zugespitzt klingt sein Stück nach zwei Stunden.
Davos Festival 2015. Probe mit Marc-André Dalbavie © Yannick Andrea
Es steht geradezu programmatisch für die Entwicklung des französischen Avantgardisten, der die Elektronik hinter sich gelassen und das Ideologische der seriellen Musik abgeworfen hat. Seinem Titel gemäß basiert »Palimpseste« auf Ûberschreibungen eines vierhundert Jahre alten Madrigals von Carlo Gesualdo, wobei Teile der alten Komposition lediglich durchschimmern. »Nein, Rückschritt ist das keiner«, kommentiert Marc-André Dalbavie seine gegenwärtige Arbeit, »man sollte auch aufpassen, das Experimentelle oder gar die Elektronik zu verwerfen. Bloß habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mit der Individualität von MusikerInnen-Persönlichkeiten an ihren Instrumenten noch differenzierter am Ausdruck arbeiten kann als am Computer.« Mit keinem Wort möchte Dalbavie jenen kulturindustriellen Pessimismus anstimmen, den man von seinesgleichen oft genug zu hören bekommt, wenn es um die Sonic Fictions aus dem Kontext digitaler Klanggeneratoren geht. Doch seine eigenen Klangforschungen entstanden vor dem Hintergrund des französischen Spektralismus der 1970er Jahre mit Hauptfiguren wie Gérard Grisey oder Tristan Murail. Was damals sehr systematisch vollzogen worden ist – etwa durch Ûbertragung der Obertonstruktur eines einzigen Instruments auf ein ganzes Orchester – wollte Dalbavie aus der Sackgasse des strengen Intellektualismus hinausführen.
Metatonalité entlang der Resonanzachsen
»Die Zeit radikaler Experimente war sehr bedeutend, um die Grenzlinien neu zu ziehen«, erklärt er. »Dennoch möchte ich Musik mehr über ihre Farbe und Sensibilität wahrnehmen und weniger über mathematische Konstruktionsmuster.« Deshalb könnte man Dalbavies Musik heute als »Metatonalité« beschreiben, als Musik, in der sich Harmonien entlang von Resonanzachsen entwickeln. Das Ûberschreiben alter Musikformen ist also weniger als post-kompositorische Ûberarbeitung eines Stils zu verstehen, sondern eher als Vertiefung auf klanglicher Ebene. Solche zirkelhafte Erklärungen erinnern wieder an die »Kreisverkehr«-Headline des Davos Festivals. Na, ja, eingängig und verständlich für jeden, denkt man gleich. Besonders in Landgemeinden, wo man unentwegt auf Kreisverkehre stößt.
Davos Festival 2015. Kaffeekonzert. Konzert im Kaffe Klatsch © Yannick Andrea
Na freilich! Aber darum herum ein intelligentes Programm zu konzipieren, und dafür auch noch Spitzenkräfte wie die Schweizer Violinistin Esther Hoppe zu gewinnen, da gehört was dazu, und da kann man dem Festivalleiter Reto Bieri, der sich selbst als provinzaffin bezeichnet, weil er eben selbst aus der Schweizer Provinz kommt und mit dem speziellen Eigensinn gut umgehen könne, nur gratulieren. Bieris Andeutungen zum Festivalmotto sind mehr als Wortspielereien. Denn die Inspiration für »Palimpseste« bezog Marc-André Dalbavie etwa über E.T.A. Hofmanns »Lebens- ansichten des Kater Murr«, wo das Tierchen seine eigenen Memoiren ausgerechnet auf Papier notiert, die bereits mit den Aufzeichnungen des Herrn Kapellmeister Kreisler beschrieben sind. Daraus einen Abend zu programmieren, der nach Robert Schumanns »Kreisleriana« benannt ist und neben Fritz Kreisler auch ein Spätwerk des bissig, kynisch, anarchistisch gestimmten Georg Kreisler – man erinnere sich an »Tauben vergiften im Park« – bringt, da gehört etwas dazu. Dass ein anderer Abend, an dem von Arvo Pärt »Spiegel im Spiegel« aufgeführt wird, »Freundeskreis« heißt, scheint genauso konsequent wie die Uraufführung von »Kreislied« des jungen rumänischen Komponisten Viktor Coltea in der langen Nacht »Vom Kreislauf der Dinge«.
Es ist klar, dass ein solches Festival, das größtenteils auf den klangerzeugenden Strukturen des tradierten Kammerorchesters basiert, in andere Symbolsysteme eingeschrieben ist als jene ernsthaften Musikformen, die aus Kontexten der Improvisation, der elektrisch verstärkten oder der elektronischen Musik kommen. Evident wird auch, dass anders ausgerichtete Festivals mit radikalen Konzepten, wie die Nickelsdorfer Konfrontationen im österreichischen Burgenland, wesentlich mehr auf soziale Netzwerke zurückgreifen müssen, um ihren Fortbestand zu sichern, während es in der Schweiz vor allem das landestypische System aus Donatoren, Gönnern und Sponsoren ist, das die Umsetzung garantiert. Könnte man sich also etwas wünschen, dann wäre es mehr Absicherung für die riskanten, freien Konzepte und vielleicht umgekehrt, den einen oder anderen radikalen Kontrapunkt in der instrumentalen Musik, um den Möglichkeitssinn neu zu umreißen. Einen solchen Ansatzpunkt brachte Davos 2013 schon einmal, als mit dem Bassisten Barry Guy eine der Leitfiguren der Nickels- dorfer Konfrontationen als Composer in Residence eingeladen war. Eine interessante Querverbindung. Dennoch zeigte auch der Auftakt dieser dreißigsten Ausgabe wieder, dass das Davos Festival eine der signifikant besten Veranstaltungen ihrer Art ist.
Davos Festival, 31. Juli bis 15. August, verschiedene Locations