Egal ob man sich schon viel mit Tanz auseinandergesetzt hat oder ob man sich Damien Manivels neuen Film »Isadoras Kinder« als absolut Unwissende*r anschaut: Die intuitive Wirkung der gezeigten Bewegungen bestätigt im Kern die Aussage, die der Tanz zu provozieren sucht. Nämlich, dass Tanz als verstärkter Ausdruck des Körpers immer nur an Dinge erinnert, die wir alle als Körper in der Welt so und so schon leben, nur vielleicht durch unsere »Verkopftheit« nicht mehr sehen. Tanz ist demnach ein Sammelsurium an Gefühlen in Gebärden und Gedanken in Choreografien. Isadora Duncan (*1877, †1927) erkannte dies schon Anfang des 20. Jahrhunderts und gilt deshalb nicht ohne Grund als eine der Begründerinnen des modernen Tanzes, der weg von einer Erziehung des Körpers hin zur freien Bewegung des Körpers im Ausdruck strebte. Ganz besonders deswegen ist »The Mother«, ein Tanzstück, das von Duncans Verlust ihrer bei einem Autounfall verstorbenen Kinder handelt, ein so gutes Beispiel für eben diesen Ausdruck. Speziell, weil besagter Tanz nur in Labanotation überliefert ist und allein die Dechiffrierung dieser in wirkliche Bewegungen an sich ein Prozess ist, der etwas mit einem Körper macht.
Vom Gefühl zum Körper zum Gefühl
Diese »Enthüllung« des Tanzes ist es auch, die Damien Manivel in seinem Film wunderschön in Szene setzt und die den von ruhigen Einstellungen geprägten Streifen erst langsam seine Wirkung entfalten lässt. Angefangen von einer Tänzerin, die in mühevoller Kleinstarbeit die Labanotationen von »The Mother« in Bewegungen übersetzt, gefolgt von der geschilderten »Übertragung« des Tanzes der Choreographin Marika Rizzi auf ihre Schülerin Manon Carpentier bis hin zu dem wunderschönen Ausgang des Films, der eine Zuschauerin des Stücks porträtiert, die auch nach dem Gesehenen nicht von dem Gefühl losgelassen wird: Alle drei Geschichten vereint die Bewegung des Tanzes und was dieser mit den jeweiligen Körpern macht. Und selbst wenn nicht viel direkt »passiert«, so ist gerade der Minimalismus der gezeigten Bilder wie auch der reduzierten Bewegungen das, was im Endeffekt den eigentlichen Eindruck hinterlässt. Wie tanzt man Schmerz? Wie entschlüsselt man die Ohnmacht eines Verlusts in Bewegungen? Und ganz grundsätzlich: Kann nicht gerade der reine körperliche Ausdruck als einziger das dechiffrieren, was Trauer normalerweise in Worten vergeblich auszudrücken versucht? Somit wird der Körper selbst zum Ausdruck und zur Sprache, um es mit den Worten des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty zu sagen.
Zur Ursprünglichkeit von Tanz
Eine der wohl schönsten Sequenzen des eigentlich dialogarmen Films ist eine Szene, in der die Choreographin Marika Rizzi mit ihrer Tanzschülerin Manon Carpentier am Strand spazieren geht und ihr von Isadora Duncan erzählt. Zum einen, weil sich hier eine zweite Erzählebene auftut, die wie eine Projektion von Duncans ursprünglichem Wunsch wirkt, nämlich, eine Tanzschule zu gründen, was durch den bevorstehenden Krieg verhindert wurde und jetzt, ein Jahrhundert später, im Geiste durch solche Menschen wie Rizzi fortlebt. Zum anderen, weil Rizzi selbst davon spricht, wie Duncan Tanz als die Kunstform bezeichnete, die niemandem gehöre, weil jede*r seine eigene Form der Gestik oder der Bewegung finden müsse. Und wenn so Tanz als gewissermaßen ursprünglichste Kunstform herausgehoben wird, so erzählt uns das im Subtext auch, wie Bewegung ganz generell, auch außerhalb des Tanz-Kontextes, von jedem einzelnen gefunden werden müsse, um etwas mehr über sich und sein Außen zu verstehen.
»Isadoras Kinder« läuft ab 1. Juli 2020 in den heimischen Kinos.