Der blanke Horror. Wo anfangen? Vielleicht zunächst zur Person: Ralf Wehowsky experimentiert mit Sound seit den frühen 1980er-Jahren, seit er als Mitglied der deutschen Post-Industrial-Band P16D4 in Erscheinung trat. Vor allem international genießt diese Formation einen legendären Status, vergleichbar mit den englischen Nurse With Wound oder der amerikanischen L.A. Free Music Society. Als Solist hat Wehowsky ebenfalls zahlreiche Alben veröffentlicht, manche davon in Zusammenarbeit mit Leuten wie Kevin Drumm oder Bruce Russell. Wir sind hier in der Schwergewichtsklasse des experimentellen Undergrounds unterwegs. Hermetische Klangforschung, stilistisch im Niemandsland jenseits von Noise, nicht akademischer Musique concrète und Sound Art. »Und davon kann man leben?« Nein, daher ist Wehowsky auch Staatsanwalt.
Warum ist das der Erwähnung wert? Weil das hier zur Besprechung vorliegende Album (eigentlich sind es zwei thematisch zusammenhängende) auch einen – wenn man so will – juristischen bzw. gesellschaftspolitischen Hintergrund hat. »C.D.« steht nicht für das Format der Veröffentlichung, für Kalauer ist an dieser Stelle kein Platz, sondern für »Colonia Dignidad«, die berüchtigte Siedlung der verbrecherischen deutschen Sekte in Chile, deren grauenhafte Geschichte bis zum heutigen Tag nicht umfassend aufgearbeitet ist. Wer sich zum Einstieg in diesen Höllenkreis einen ersten Überblick verschaffen will über die widerlichen Taten und das stumme Leid sowie die jahrzehntelange überwiegend unbehelligte Existenz der kriminellen Religionsgemeinschaft und die über Jahrzehnte schleppend verlaufende juristische Aufklärung und damit verbundenes politisches Versagen, findet online schnell eine Vielzahl an Quellen und Informationen. Wer keinen empfindlichen Magen und guten Nerven hat, kann dann immer tiefer in die haarsträubende Vergangenheit (und zweifelhafte Gegenwart) von Colonia Dignidad (heute Villa Baviera) einsteigen.
Verbrechen vertonen, Erinnerung bewahren
Was hat dies nun mit der Musik von Ralf Wehowsky zu tun bzw. was hört man, wenn man »C.D.« in den Player schiebt? Zwei Tracks, »Reue« und »Knochenstückchen«, knapp 40 bzw. 50 Minuten lange experimentelle Klang-Collagen, die im Titel »personengebundene« wie »forensische« Formen der Aufarbeitung andeuten. In die zu hörenden Aufnahmen sind bearbeitete Audiodokumente wie Zitate aus Zeugenaussagen von Opfern der Sekte und ähnliches eingearbeitet und entsprechend beklemmend fällt die gesamte Geräuschkulisse der beiden Tonträger aus. Ein Gefühl gleichzeitiger Leere bzw. Verlorenheit und Enge entsteht während des Zuhörens. Diese unangenehmen Emotionen provoziert die Musik, auch ohne Kenntnis der historischen Motive, auf die sie sich bezieht. Das Klanggemisch aus Noise, Industrial und Musique concrète wirkt an sich schon ziemlich fies; das Gegenteil von Easy-Listening. Vergegenwärtigt man sich dann zusätzlich das zugrundeliegende Thema, ist es um die bisher gute Laune gänzlich geschehen.
Die sich in diesem Kontext stellende Frage nach dem notwendigen oder nachweisbaren Zusammenhang von Inhalt und Form (»das klingt so, weil …«) ist ebenso naheliegend wie komplex in der Beantwortung. Klangkunst ist kein Agitprop. Wehowsky präsentiert keine Protestlieder und auch die im (Post-)Industrial vorherrschende Schockästhetik (explizite Coverartworks für extreme Musik als Ventil für extreme Gefühle wie Wut, Hass, Frustration in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen) liegt ihm fern. Er bedient sich subtiler und stellenweise beängstigend ruhiger musikalischer Elemente, die die geisterhafte Atmosphäre seiner Aufnahmen verstärken – und die unheimlichen historischen Vorgänge gewissermaßen hörbar macht. Um es paradox auszudrücken: Die Arbeit kreist um ein moralisches Vakuum und im Grunde unaussprechliches Elend und Leid, die aber auch nicht verschwiegen werden dürfen. Im Aushalten dieser Aporie erfüllt sich sozusagen der selbstgestellte Auftrag. Denn die Forderung oder Vorstellung, mittels akustisch-ästhetischer Bearbeitung den Widerwärtigkeiten und dem Terror eines religiösen Kinderschänders und seiner Kollaborateure entsprechen zu können, ist naiv und anmaßend. Das geht gar nicht. Die Kunst besteht buchstäblich in der abstrakten Andeutung, der gebrochenen Vergegenwärtigung dessen, was geschehen ist und nachwirkt, um es in der Erinnerung wach und im Bewusstsein für die Gestaltung der Zukunft präsent zu halten.
Ethik der Aufmerksamkeit
Schon beim Blick auf die fotografische Abbildung des Covers entsteht ein mulmiges Gefühl. Die unsicher lächelnden jungen Menschen (blasser Teint, rote Wangen) machen an sich bzw. auf den ersten Blick keinen glücklichen Eindruck – die Wahrscheinlichkeit, in Gesichter sexuell missbrauchter Menschen zu blicken, verstärkt das unglückliche Bewusstsein in der Rezeption. Gleichzeitig aber weiß man nichts bzw. ahnt nur, was den verletzten Seelen von Colonia Dignidad widerfahren ist. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass ein autodidaktischer Klangkünstler und promovierter Jurist am Werk ist, der u. a. das relative milde Strafmaß für Andre E., einen Unterstützer der rechtsextremen Terror-Zelle NSU kritisierte, auch wenn die anschließende Revision keine Verschärfung des Strafmaßes mit sich brachte. Der Versuch, geschehenem Unrecht gerecht zu werden, in ästhetischem wie juristischem Sinn, ist, wenn keine Unmöglichkeit, so doch eine enorme Herausforderung.
Ich bin weder rechtsphilosophisch noch kunsttheoretisch akademisch gebildet, aber mit den Ohren lange genug unterwegs und zwischen denen sitzt ein Hirn, dessen Synapsen ordentlich in Wallung geraten in der Konfrontation mit Wehowskys Arbeit. Daher, why not!?, noch ein großes Fass zum Abschluss: In historischer Perspektive auf die immerwährende Frage »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit« (Adorno) und in Auseinandersetzung mit »Schindlers Liste« kritisierte Claude Lanzmann (»Shoa«) Spielbergs emotionale Inszenierung, die auf das Überleben weniger angesichts des Mordes an Millionen fokussierte, und lehnte diese Thematisierung des Holocaust als rührselig und kitschig und damit falsch ab. Ich will hier nicht Auschwitz mit Colonia Dignidad vergleichen. Lanzmanns Text (»Ihr sollt nicht weinen«, erschienen vor 30 Jahren in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«) behandelt aber ein zentrales Thema in der ästhetischen Auseinandersetzung mit Leid, Elend, (gesellschaftlich sanktioniertem) Unrecht und beinah unaussprechlichem Grauen, das in der künstlerischen Behandlung behutsam reflektiert werden muss, soll den Opfern nicht wiederholt Leid angetan werden und Unrecht widerfahren. Auch hier gibt es inhaltlichen Nähen von Strafverfahren (die Zeugenaussage von Opfern als erneut quälende – mithin re-traumatisierende – Erfahrung für diese) und Prozessen ästhetischer Auseinandersetzung. Wie also begegnet man dem Grauen? Ein weites Feld, vermintes Gelände und gedankliche Abgründe, dunkel und fern von Licht. Mit Wehowsky kann man sich auf den Weg machen und versuchen, den monströsen Dimensionen menschlichen Handelns beizukommen.











