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»Cheyenne – This Must Be The Place«

Wenn Spätpubertät und Midlife-Crisis zusammenfallen: Regisseur Paolo Sorrentino schickt Sean Penn als Ex-Rockstar auf Nazijagd und auf die Suche nach sich selbst.

Rainer Maria Rilke schreibt in den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« über die Gesichter, die Menschen besitzen, u. a. spricht er sinngemä&szlig davon, dass manche ein und dasselbe Gesicht ständig benutzen, auch wenn es irgendwann völlig verschlissen ist. Cheyenne, die Titelfigur von Paolo Sorrentinos Film, hat eines dieser Gesichter, das durch überlange Benutzung abgetragen wirkt. Es ist tatsächlich eine Maske, die er jeden Morgen anlegt: roter Lippenstift auf wei&szliger Grundierung, viel Mascara und dicker Kajalauftrag, toupiertes Zauselhaar (Style-Vorbild ist Robert Smith von The Cure). Später im Film erfahren wir, dass es ein Akt der Befreiung und Rebellion des Teenagers, der er damals gewesen war, darstellte als er zum ersten Mal Make Up auftrug. An dem rund 50-jährigen Mann, der er mittlerweile geworden ist, sieht diese Bemalung nur noch bizarr aus. Doch die Aufmachung des Ex-Goth-Rockstars signalisiert nicht nur einen gewissen Stillstand in der persönlichen Entwicklung. Die Verkleidung als »Wei&szligclown« bietet auch Schutz und mehrmals überrascht, ja überlistet Cheyenne sein jeweiliges Gegenüber, das ihn unterschätzt.

Tiefkühlpizza in der Designerküche

Der etwas weltfremd wirkende und sogar ein wenig altmodische Cheyenne hat sich vor langer Zeit aus dem Pop-Geschäft und der Üffentlichkeit völlig zurückgezogen und lebt mit seiner Frau Jane (Frances McDormand) in einem prächtigen Herrenhaus in einem Vorort Dublins. Das geradezu kleinbürgerliche Leben des Paares steht im Gegensatz zum pompösen Interieur und der überrenovierten Architektur ihres Heims. In seiner top-ausgestatteten Designerküche wärmt sich Cheyenne am liebsten Tiefkühlpizza. Einkäufe erledigt er selbst, bevorzugt im nahen Einkaufszentrum, seinen Trolley hinter sich herziehend. Nachdem der ehemalige Pop-Star die Nachricht erhalten hat, dass sein Vater, zu dem er seit über 30 Jahren keinen Kontakt hatte, im Sterben liegt, macht er sich auf den Weg nach New York. Der Vater ist tot als Cheyenne im düsteren elterlichen Wohnsitz ankommt. Er erfährt, dass sein Vater, ein Holocaust-?berlebender, sein Leben der Suche nach seinem Peiniger im KZ widmete, der sich unter falschen Namen in den USA versteckt. Cheyenne beschlie&szligt, die Lebensaufgabe seines Vaters zu Ende zu führen und begibt sich auf die Suche nach dem hochbetagten NS-Verbrecher. Nun beginnt auch ein Road Movie, das den Helden an unterschiedliche Orte der Vereinigten Staaten führt. Und – wie es sich für so eine (Initiations-) Reise gehört – begegnet er auch verschiedenen Menschen. Von einigen erhält der Reisende symbolische »Gaben«, die ihm mehr oder weniger in seiner »Mission« weiterhelfen, sei es ein Quäntchen Lebensweisheit, sei es ein Tipp, wo sich der von ihm Gesuchte befinden könnte. Und auch Cheyenne hilft, wenn er kann. So betrachtet folgt der Film der Struktur eines Märchens wie z. B. »Der Teufel mit den goldenen Haaren«. Und wie im Märchen wird Schlauheit und Gutsein belohnt.

Märchenhafte Strukturen

Eine weitere Analogie aus der Welt der Sagen wäre, dass gerade einer, dem man es nicht zugetraut hätte, eine Aufgabe bewältigt, an der andere scheiterten. Sorrentino orientierte sich wohl kaum bewusst an mythologischen Strukturen, seine Begründung, einen abgehalfterten Rockmusiker auf Nazijagd zu schicken, lautet: »Der Tragödie aller Tragödien, dem Holocaust, die Welt der Popmusik gegenüber zu stellen, der Inbegriff des Aufgeblasenen, Oberflächlichen und Frivolen, schien mir eine Kombination, die so gefährlich und gewagt ist, dass sich daraus eine interessante Geschichte entwickeln lie&szlig.« Sorrentino dreht also das Schräubchen des filmischen Umgangs mit dem Thema Holocaust also ein Stückchen Richtung Respektlosigkeit. Abgesehen von der scheinbar absurden Kombination von altem Popstar und Altnazi, verlangt die Logik des Mythos, die Konfrontation des Helden mit einem wahrhaftigen Monster – und ein NS-Täter zählt doch zum Monströsesten, das sich im kollektiven Bewusstsein festgesetzt hat. Die Sequenz der tatsächlichen Begegnung mit dem Gesuchten unterscheidet sich im Duktus vom übrigen Film, es dominieren Nahaufnahmen, der alte Mann spricht einen an Cioran erinnernden Monolog. Es ist eine der vielen Geschichten innerhalb des Films, die nicht als unverbundene Episoden dargeboten werden: Jede der vielen Figuren und Nebenhandlungen hat ihren Platz in der fast organisch wirkenden, verzweigten Story, lose Enden finden sich kaum. Vorwerfen könnte man Sorrentino, dass er der Versuchung, immer wieder den naheliegendsten Kalauer einzubringen, nicht widerstehen konnte. Möglicherweise geben aber gerade diese mitunter flauen Witzchen, dem Film, der ein Meisterwerk aus intensiven Farben, Bildarrangements und Musik (David Byrne!) ist, eben auch eine Art Bodenhaftung.

»Cheyenne – This Must Be The Place«: Italien/Frankreich/Irland 2011. Regie: Paolo Sorrentino. Musik: David Byrne. Lyrics: Will Oldham Mit: Sean Penn, Frances McDormand, Judd Hirsch, Eve Hewson, Kerry Kendon, Harry Dean Stanton, David Byrne, Heinz Lieven u. a.

Home / Kultur / Film

Text
Jenny Legenstein

Veröffentlichung
23.02.2012

Schlagwörter

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