Während ich ganz in Gedanken versunken bin, kommt pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt Marcello dahergebraust. Seine Pünktlichkeit überrascht mich wirklich, denn diese zählt hierzulande nicht eben zu den bevorzugten Tugenden. Erhält man zum Beispiel von einer Familie eine Einladung zum Abendessen auf acht Uhr, so wäre man direkt unhöflich, vor neun Uhr aufzukreuzen. Andere Länder, andere Sitten – hier heißt das »Filipino-Time«.
Unser Freund jedoch scheint bereits in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft einen Hauch westlicher Exaktheit und Präzision übernommen zu haben.
»Magandang umaga, kumusta po kayo – Guten Morgen, wie geht es euch?«
»Mabuti salamat. At ikaw – Danke, bestens. Und dir?«
»Mabuti salamat.»
»Ano ito – Was ist das?«, frage ich neugierig und deute auf ein großes stacheliges Ding, das er auf unseren Tisch legt.
»Das ist die Nationalfrucht von Davao, eine Durian. Mein Morgengeschenk für euch.«
»Uli und ich haben uns 1993 kennen- und schätzen gelernt. Als wir im Oktober 1994 Aufnahmen machten, suchten wir nach einer Möglichkeit, sie zu veröffentlichen. Da niemand Interesse zeigte, entschlossen wir uns, sie selbst zu produzieren. Deshalb haben wir »Durian« gegründet. Und kurz darauf wurde uns angeboten, die »Klangforum«-Jubiläums-CD, bei der Uli auch als Aufnahmeleiter fungierte, auf »Durian« erscheinen zu lassen. Das hat uns vertriebsmäßig einige Tore geöffnet und auf jeden Fall sehr geholfen.«
Eine Anlasslabelgründung nach bekanntem Strickmuster also, die Werner Dafeldecker hier skizziert: Musiker gebären eine Projektidee und wollen diese für die Nachwelt auf Tonträger verewigen. Mangels Interesse von Seiten bestehender Labels unter selbst inauguriertem Firmen-Signet. Ein alltäglicher Vorgang, wenn man sich ähnlich gelagerte Fälle wie »Rude Noises« (Max Nagl), »OlongapO« (Wolfgang Mitterer) oder »Arbe« (Bertl Mütter) vergegenwärtigt, ein Vorgang, der im vorliegenden Fall dennoch überrascht.
»Durian« – das bedeutet doch schon rein äußerlich professionalisierte graphische Design-Ästhetik von hohem Wiedererkennungswert, funktionalistische Bookletgestaltung, die den Hörer mit beinahe pädagogischer Autorität an der Hand nimmt, um ihm unter die Nase zu reiben: »Das Wesentliche ist der Inhalt.«
Und: »Diesen Inhalt musst du dir selbst erschließen« – ohne optische Assoziationskrücken.
Und die Betreiber Werner Dafeldecker und Uli Fussenegger verkörpern doch als Bass-Antipoden quasi paradigmatisch die »heimliche Liebe« zeitgenössischer Improvisationsmusik und der europäischen Moderne füreinander. Hie der Autodidakt, der 1984 20jährig mit »Ton.Art« debütierte und sich über »Striped Roses«, »Polwechsel«, »Shabotinski« und andere Kooperationsprojekte (u. a. 1997 mit Jim O’Rourke in Nickelsdorf) zu einer Schlüsselfigur der improvisierten Musikszene hocharbeitete; dort der zwei Jahre jüngere, studierte Instrumentalist, Spezialist für die Interpretation von Barockmusik auf historischen Instrumenten und langjähriges Mitglied des Wiener »Klangforum«, der nach dem Pariser »Ensemble InterContemporain« und dem Frankfurter »Ensemble Modern« möglicherweise bereits kompetentesten Wiedergabe-Instanz für zeitgenössische komponierte Musik.
Eine personifizierte Annäherung der seit der Aleatorik für Indetermination offenen Neuen Musik an die spannungsvollen Interaktionsmöglichkeiten experimenteller Improvisationskunst, die sich ihrerseits den klanglichen Nuancenreichtum und formale Konzeptionen der »Notisten« zunehmend zu eigen macht. Dafeldecker winkt freilich ab:
»Natürlich sind wir uns dieser Zwischenstellung bewusst, die Frage, ob dies oder das jetzt Improvisations- oder komponierte Musik ist, stellt sich aber nicht. Ich glaube, die Annäherung zwischen diesen Gebieten hat schon längst stattgefunden. Das ist bereits eine »Post-Annäherung«, in der wir uns heute bewegen. Es gibt sehr viele Musiker, die bereits gezeigt haben, dass eine Fusion auf den verschiedensten Ebenen funktioniert, nicht nur betreffend Moderne und Jazz. Die Diskussion darüber ist, glaube ich, im wesentlichen vorbei.«
Und konkret: »Wann immer uns jemand etwas Interessantes anbietet, versuchen wir, es zu realisieren. Die Label-Linie ergibt sich durch die CDs, die wir herausbringen. Es sind äußerst subjektive, intuitive, aber immer einstimmige Entscheidungen, die uns dazu treiben, bestimmte Sachen zu veröffentlichen und bestimmte nicht. Vergleicht man Furrer mit Hinteregger, erscheint einem das wie Tag und Nacht!«
Schnell hat er das komische Gebilde in zwei Hälften gespaltet, und zum Vorschein kommen etliche marillengroße, klebrige Knollen, die einen ganz und gar nicht appetitanregenden Eindruck abgeben. Doch was ist der Anblick gegen die furchtbare Gestankwolke, die sich plötzlich über den Tisch ausbreitet!
»Sag mal, hast du denn gar keine Manieren?«, stichelt Dietmar
»Du glaubst wohl, Angriff ist die beste Verteidigung«, setze ich mich energisch gegen diese infame Anschuldigung zur Wehr.
Marcello scheint unsere gegenseitigen Anspielungen problemlos mitbekommen zu haben, angelt sich eine dieser Knollen und steckt sie genießerisch in seinen Mundwinkel. Einladend schiebt er die Durianfrucht zu mir herüber.
Und dennoch, bei aller konzeptioneller Vielfalt und trotz äußerlicher Abgrenzung der beiden Repertoire-Schienen mittels variierter graphischer Aufmachung, ist das, was »Durian« musikalisch konstituiert, ein erstaunlich geschlossen anmutender Werk-Block rund um die immer unschärfere, immer schwieriger zu ziehende Grenzlinie zwischen komponierter und improvisierter Moderne.
Es beginnt schon mit dem initialen Duoprojekt »Bogengänge«, verhaltenen, teils kontrapunktischen, teils zu kompakten Klangschichten verschmolzenen, freiimprovisierten Kontrabass-Duetten, deren getragener, linearer Gestus sich – farblich differenzierter und schärfer konturiert – auf den ersten beiden Stücken der »Klangforum«-Doppel-CD von Scelsi und Zender fast nahtlos fortsetzt. Lachenmann, Schönberg, Ensemblegründer Furrer, Kubo u. a. sind auf der anlässlich der Zehnjahresfeier 1995 live aufgenommenen CD mit Werken vertreten, Wolfram Schurigs Viola-Komposition »Crwth« bietet dabei in ihrem rhapsodischen, quasi-improvisatorischen Duktus einen weiteren Fingerzeig in Richtung Beeinflussung durch die »andere« Seite.
Auch im weiteren überwiegen ohrenfällige Parallelen: Ob Burkhard Stangls extrem ausgesparte, zuweilen an der Hörschwelle angesiedelte Einzelton-Meditationen, ob die aus akustischem Rohmaterial rekomponierten »Diphtongs«-Sample-Collagen – »entidiomatisierte, abstrahierte Klanglichkeit« könnte der Versuch eines kleinsten gemeinsamen Nenners, auf den sämtliche bisherigen »Durian«-CDs zu bringen sind, lauten.
Sogar das Bundesmusikkuratorenprojekt »Klangnetze«, in dessen Rahmen KomponistInnen und MusikerInnen wie Elisabeth Schimana, Andrea Sodomka, Burkhard Stangl und Klaus Hollinetz mit Schulklassen deren Kompositionen realisierten, fällt in diesem Sinne nicht wirklich aus dem Rahmen. Am ehesten tun dies wohl noch Oskar Aichingers teils tonale, musikhistorische Assoziationen weckende Klaviermonologe und Helge Hintereggers zuweilen freejazzbeeinflusstes »The Comforts of Madness«-Vokabular.
Eine weitere – mit der musikalischen korrelierende – Linie führt auf personeller Ebene durch die bislang acht CDs: Die vertretenen Musiker entstammen mit wenigen Ausnahmen dem näheren bis weiteren Umfeld des »Klangforum« sowie der Formationen »Ton.Art« und »Striped Roses«. Dafeldecker relativiert dies mit dem Hinweis auf natürliche »geographische« Gegebenheiten bzw. auf zukünftige Projekte: Die CD des »Polwechsel«-Cellisten Michael Moser mit Auftragskompositionen (u. a. Peter Ablingers und Isabel Mundrys) erscheint Ende Februar, die des Chicagoer Bassklarinettisten Gene Coleman, eines ehemalig
en »Gastr del Sol«-Weggefährten Jim O’Rourkes, ist ebenfalls bereits fertiggestellt; zwei weitere von Flötist und Komponist Clemens Gadenstätter bzw. – die eigentliche Überraschung! – Peter Herbert und Gitarrist Dave Tronzo in Verhandlung.
Und in Zusammenhang damit vernimmt man auch einen gewissen Ehrgeiz, der die Label-Betreiber abseits von pragmatischen Motiven beflügelt.
»Wir wollen, dass »Durian« als Label einen gewissen Status erreicht, dass es einmal etwas bedeutet, auf »Durian« zu erscheinen. Das wäre unser Ziel.«
»Stör dich nicht an dem Gestank. Probier lieber einmal, denn das ist wirklich eine Köstlichkeit.«
Breit grinsend fügt er hinzu: »Über die Durian heißt es bei uns: ’smell like hell and taste like heaven‘!«
Angewidert lange ich in die klebrige Masse, angle mir eine Frucht und stecke sie mit angehaltenem Atem zwischen die Zähne. Gelungen! Jetzt stinke ich nicht nur aus dem Mund, auch meine Finger sind voll von der klebrigen Masse. Doch wahrlich, Marcello hat nicht übertrieben – der Geschmack der Durian ist wirklich eine Gaumenfreude, die die Gestankwolke schnell vergessen lässt. Schmatzend verzehren wir die restlichen Knollen und teilen sie brüderlich auf, während Marcellos Gesicht einen sichtlich zufriedenen Ausdruck angenommen hat. Mir kommt vor, als wäre das eine Art Bewährungsprobe oder Härtetest für uns gewesen, jedenfalls scheinen wir ihn gut bestanden zu haben.
Dafeldecker: »Wir betrachten uns als Plattform. Uli und ich investieren – unbezahlt – unsere Arbeitszeit, die Aufgabe der Finanzierung liegt beim jeweiligen Projektbetreiber. Was wir anbieten, ist ein gewisses Knowhow betreffend den Produktionsablauf bis hin zum Presswerk. Dazu kommt natürlich unser Vertriebsnetz, das wir laufend auszuweiten suchen. Wir besitzen auch für Deutschland einen eigenen Label-Code, machen Aussendungen und stellen Kontakte zu Rundfunk-Stationen und den Medien her. Zur Zeit sind wir auch auf der Suche nach Sponsoren.«
Immerhin sind u. a. Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Spanien, Italien, die Schweiz und neuerdings auch die USA vertriebsmäßig mit »Durian« vernetzt, in Österreich selbst ist dafür der von Stangl, Dafeldecker und den Grazern Seppo Gründler und Josef Klammer gegründete »Verein: Neue Musik« sowie die »Extraplatte« zuständig. Ein erster Produkt-Folder ist in Vorbereitung. Pläne, die erfreulicherweise den Eindruck eines Langzeitprojekts erwecken, das seine Bedeutung in Zukunft noch wesentlich ausbauen wird und auf dessen konkrete CD-Früchte man gespannt sein darf. Schon jetzt ist »Durian« Österreichs ambitioniertestes Forum in Sachen Neuer improvisierter Musik. Dafeldecker/Fussenegger besitzen beste Chancen, sich (auch) als Tonträger-Verleger nicht nur national zu einer zentralen Szene-Instanz zu entwickeln.
Nachdem wir unsere Hände und auch unseren Bart sorgfältig unter der Wasserleitung gereinigt haben, verrät uns Marcello noch ein großes Geheimnis.
»Eine Durianfrucht und eine Flasche Bier sind das beste Potenzmittel«, und dabei grinst er über beide Ohren, dieses Schlitzohr.
Und übrigens, mit Verlaub gefragt, welcher Art ist eigentlich der Konnex zwischen der Musik der »Durian«-Silberlinge und der namensgebenden, kopfgroßen »Königin der Früchte« aus dem malaiisch-indonesischen Raum? Nur der einer Schnapsidee? Dafeldecker: »Ja.«
Diskographie:
099 CD: Dafeldecker/Fussenegger: Bogengänge (1995)
097/098-2: Klangforum Wien: Live At Konzerthaus Wien (1995)
096-2: Beat Furrer: Narcissus-Fragment/Time Out etc. (1996)
002-2: The Comforts of Madness/Per S. E. – Helge Hinteregger/Franz
Hautzinger/Roger Turner (1996)
003-2: Projekt Klangnetze – Musik von dreiundneunzig SchülerInnen
1995/96 (1996)
004-2: Oskar Aichinger: Poemia (1997)
005-2: Mühlbacher/Dafeldecker: Diphtongs (1997)
006-2: Burkhard Stangl: Récital (1997)
Anmerkung: Die zitierten zwischengeschalteten Textteile wurden in leicht gekürzter Form dem Buch „Abenteuer in der Sulu-See – Unter Kopfjägern, Seezigeunern und Piraten“ von Sepp Eder, erschienen 1984 im Andreas & Andreas-Verlag Salzburg, S. 17, entnommen. Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung des Verlags Andreas/Dr. Müller, Salzburg.