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20 Jahre MIMI und weitere Aktivitäten des A.M.I.

Der schönst gelegene Festivalort der Welt liegt vor Marseille: Die Insel Iles Du Frioul - vor Jahrhunderten war das verfallene (was den besonderen Charme ausmacht) Hopital Caroline Quarantäne-Station. Zum Jubiläum geizte die einmal mehr von Ferdinand Richard kuratierte Fete unorthodoxer Klänge zwischen 28. und 31. Juli 2005 vielleicht mit sensationell-schrägen Konzerten, beeindruckte aber mit einer breiten Vielfalt.

Zunächst empfand ich als Drama, aus Zeitgründen nicht den Auftakt mit dem in den Jazzhimmel auffahrenden Newtopia Project und Soap Kills + Les Chanteuses D’Europe Centrale erleben zu können. Auf der Festival-Vorab-CD hört sich insbesondere das letztere Gipfeltreffen des libanesischen Duos (Zeid Hamdan – progr., Yasmine Hamdan – voc) mit Beata Palya (Voc) und Ania Witczak (acc, voc) als abgefeimt-ätherische Musik an, die dank gesampleter west-östlicher Strings und massiver Beats ihre abgehobene Wirkung tut.

Und gerade der Freitag, mein Anreisetag, erschien als der gewöhnungsbedürftigste. MIMI-Fans, die die Erwartunghaltung haben, dass MIMI eben Kapazunder wie Fred Frith, John Zorn oder Ornette Coleman (im Jahr 1996) und spannend-sperrige neue Projekte zu bieten haben sollte, wurden insbesondere vom Hauptact Les Amants De Juliette auf die Folter gespannt. Serge Adam (tr), Benoit Delbecq (prep. pi) und Philippe Foch (tablas, perc) können zwar anregend miteinander parlieren/improvisieren, aber rüber kam das auf eine sehr laue, unspektakuläre Weise. Etwas ruppiger waren zuvor Vibrion aus Marseille zu Gange. Basis war eine Art Rock-HipHop, auf der Frédéric Nevchehirlan und ??ric Carter rappten. Und zwar Slam-Poetry, sehr poetisch auf den Punkt gebracht. Für mich als Französisch-Unkundigen textlich nicht nachvollziehbar, aber doch einigermaßen spannend. Nun, Sonntags kristallisierte sich heraus, dass Dgiz, Reime-Meister aus Paris, das Nichtverstehen von Lyrics als entbehrlich empfinden ließ. Sein absolut spontaner Humor und Sarkasmus löste die Lachmuskeln des Publikums und verblüffte selbst die an seiner Seite agierenden MusikerInnen! DJ Junkaz Lou (samples), Sylvaine Helary (querfl.) und Stephen Harrison (contrab.) waren ihm aber an Ideen durchaus ebenbürtig. Selten ist man von live gespieltem HipHop dermaßen angetan wie von Dgiz. Weil hier stimmten trotz Old-School-Affinität die über Jazz hinausragenden Sounds, auch beim Gastauftritt eines Rappers aus der Demokratischen Republik Kongo.

Dgiz gastierte nämlich letztes Jahr bei MIMI-Sud in Kinshasa, und gerne verweise ich hiemit auf diese Aktivität des A.M.I. – des Centre National de Développement pour les Musiques Actuelles, das als Herzstück das alljährliche MIMI-Festival in Marseille veranstaltet. A.M.I. präsentiert also vielversprechende französische Talente auch an anderen Orten und wird auch von diversen franzöischen Kulturinstituten weltweit für spezielle Programme gefragt. Ferdinand Richard, charismatischer Chef des Festivals, berichtet aber, dass es einfach zu viele Angebote zur Zusammenarbeit gibt und A.M.I. immer wieder ablehnen muss, weil zwar Kompetenz da ist, aber man nicht weiter expandieren kann. Ferdinand Richard, der früher selbst noch Zeit hatte bei MIMI zu musizieren (etwa im Duo Bruniferd), kommt als A.M.I.-Direktor nur noch zu Hause zum Bassspielen, was ihm zwar leid tue. Aber andererseits bereitet ihm die Entwicklungsarbeit doch genug Freude. Sichtbar und spürbar wurden manche Kollaborationen an Ständen, die neben den Plattenverkäufern aufgebaut waren. Ormuz hieß der Infostand zu Syrien, Libanon und Jordanien und Kulturfreelancerin Jumana al Yasiri, die u.a. syrische Künstler zu internationalen Projekten vermittelt, beschrieb die (Improvisations)Musikszene von Damaskus als durchaus vital. Genuin politische Messages müssen außen vor bleiben, aber es gibt durchaus eine Alternativszene!

Daddy Brown Mbaki Simba, Opérateur Culturel aus dem Kongo, berichtete von den Vorteilen des Austauschs, die auch im Tanz- und Theaterbereich vonstatten geht. Es ist mehr als sinnvoll, engagierte Leute wie ihn nach Marseille einzuladen, um das Handwerk eines zeitgenössischen Kulturarbeiters zu vermitteln. Auch Simba sieht das Ende der auf vier Jahre befristeten Kollaboration mit MIMI als problematisch an. Eine volle Ausbildung allein ist zuwenig, es fehlen dann vermutlich die aus Frankreich kommenden finanziellen Mittel. Großartig war auch das Gespräch mit Rigobert Mbila Ndakambo, Präsident von Musique Pour Tous in der Commune de Ngaliena (musiqueportous@yahoo.fr), das sich um die Nichtexistenz einer afrikanischen Philosophie drehte.

Die gewaltige Kompetenz des A.M.I. hat über eine Veranstalterkooperation nördlich des Polarkreises zu einer bemerkenswerten Kollaboration geführt. MIMI-Nor in Narjan-Mar ist letztlich eine Erfindung des A.M.I. aus eigener Kraft und laut Monsieur Richard war die französische Botschaft in Moskau sehr verwundert, dass ohne deren Zutun (später gab es zumindest Finanzzuwendenungen) dieses Projekt entstand. Jedenfalls sind die kulturellen Vertreter aus der autonomen nordrussischen Region Nenzen mächtig stolz darauf.

Das Ensemble 4′33″ ist vermutlich eine aus MIMI-Nor resultierende Entdeckung. Bei diesem Moskauer Unit – von dem jeder Musiker in interessanten Bandkonstellationen spielt, die im Westen leider niemand kennt – gehen Kammerrockmusik und Minimal Music eine wundersame Liaison ein. Zwei Violinisten, darunter der teils auch in Paris lebende Leiter Alexei Aigui, bildeten so etwas wie den Fokus, um den herum Piano, Bass und Trompete eine still wuchernde Klangaura schufen, die signalisierte, dass zwischen Steve Reich und Michael Nyman doch noch Neuland ist. Das war der süffisante Auftakt zum Samstagsprogramm.

Meredith Monk, der einzige Star der 20. Festivalausgabe, sorgte hernach für ein überfülltes Auditorium und eroberte mit einem best-of-Set, der auch etwas Tanzbewegung einfließen ließ die meisten Herzen der Anwesenden. Die Orgel-Piècen und die Vokal-Duette mit dem fabulösen Theo Bleckmann erhielten den meisten Beifall.

Und wie es sich für einen würdigen Festivalabschluss ziemt, regten Totonho & Os Cabra zum Tanz an. Die Brasilianer gehören der »Tropicalism«-Szene an und lieferten psychedelischen Bossa Nova Rock. Tatsächlich geil verzerrte Phaser-Gitarren maßen sich mit dem leicht technoiden Beateinschlag, den Cassiano Santos De Sa beisteuerte. Die Party nahm so ihren Lauf, fortgesetzt wurde von DJs, die funky einheizten. An diesem Fest, gedacht für alle Mitarbeiter des A.M.I. Centre Marseille, konnte jeder Festivalbesucher teilnehmen. Ein grandioses Finale, erst um halb vier Uhr morgens gings per Schiff zurück an die Gestade des Alten Hafens von Marseille. Ein Jubiläum par excellence!

www.amicentre.biz

Home / Musik / Artikel

Text
Alfred Pranzl

Veröffentlichung
12.08.2005

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