Zeithistorisch die Handbremse ziehen. In den Rückspiegel blicken. Dahin, wo die Ära der heute alten Medien begann. Vorbei also an jenem Glamour, den Radio und Plattenspieler einstmals ausstrahlten. Die Schubumkehr führt noch weiter zurück. In die Phase allererster technisch gestützter Aufzeichnungsverfahren. Hier finden sich die Grundlagen gegenwärtiger Verschaltungen von Sound mit bewegtem Bild über die digitale Matrix in Kunst, Musik und Club Culture. Entwickelt werden sie in der Moderne des 19. Jahrhunderts, als die Malerei gerade ihre stilistisch unterschiedlichen Methoden struktureller Repräsentation von Wirklichkeit erarbeitet. Sprech- und Spielautomaten sind bereits bekannt. ?tienne-Jules Marey beginnt ab 1880 die Photographie als Aufzeichnungsgerät einzusetzen, um Bewegungen in Raum und Zeit sichtbar zu machen. Als einen direkten Vorläufer nennt er James Watt, der in Diagrammform die Energieströme im Inneren des Kessels der Dampfmaschine darstellte. Speziell aus diesem Zusammendenken von Schematisierungsvorgängen mit den neuen Möglichkeiten der Bildproduktion konkretisieren sich visualisierte Systeme zur Orientierung in der Wiederholung ästhetischer Abläufe. Die jetzt neuen Formalisierungsstrategien unterscheiden sich radikal von dem von Guido von Arrezo im Mittelalter entwickelten und in Grundzügen bis heute gültigen Notensystem der Musik. Um 1930 erstellt der Pionier des abstrakten Films Oskar Fischinger organisch fließende, Bildsequenzen, zur visuellen Rhythmisierung von Musikstücken.
Im Makrofeld mathematischer Systeme
Spätestens hier offenbart sich die enorme Relevanz solcher Vorstöße in die Frühgeschichte des Medienzeitalters, wie gegenwärtig im ZKM in der überbordenden Ausstellung »Notation – Kalkül und Form in den Künsten«. Tiefenbohrungen in Makrobereiche der Kulturgeschichte legen frühe Verschneidungen mathematisch orientierter Systeme mit künstlerischen Konzepten frei, welche seither die Grundlagen für die Verknüpfung sonischer mit visuellen Parametern darstellen. Der Blick auf die Entstehung solcher Grammatiken wirft grundsätzliche Fragen von Codierungsprozessen und deren Aufzeichnung auf. Das in kaum überbietbarem Umfang angelegte Unternehmen fußt jedoch nicht auf linearen Abläufen oder gar historischen Abfolgen im Sinne konstruierter Kausalzusammenhänge.
Stattdessen konstituiert sich die Ausstellungsgeographie als mehrdimensionales Puzzle mit rhizomorph auftauchenden Schwerpunkten. Werke aus sämtlichen Bereichen der Kultur seit 1900, aus Musik, Malerei, Choreografie, Architektur, Fotografie, Film und natürlich der digitalen Kunst werden auf ihren Charakter als diffiziles Zeichensystem zurückgeführt und auf Basis ihrer spezifischen linguistischen Eigenschaften zueinander in Beziehung gesetzt. Das ideengeschichtlich gewobene Projekt, mit Entwürfen derart unterschiedlicher ProtagonistInnen wie John Cage, Walter Benjamin, Mary Wigman, Ezra Pound und Marcel Broodthaers, Allan McCollum und Mel Bochner oder Edgard Varèse und Iannis Xenakis, versucht vergleichende Lesarten unter dem Paradigma der Notation als Mittel zur genreübergreifenden Kunstproduktion zu evozieren. Die Formulierung serieller Verfahren zur Aufzeichnung ideell vorgedachter morphischer Resonanzen als Generalthema führt schließlich zu einer derart weitreichenden Auffassung des Begriffs von Notation, welcher sogar die erhaltenen Spuren der Entwurfsprozesse selbst in den Status autonomer Kunstwerke erhebt. Diese Verwischung der Grenzen zwischen Werk und Entwurf, zwischen künstlerischer Arbeit und den Prozessen im Studio erscheint zunächst problematisch, da es von hier aus nicht mehr weit zur Fetischisierung von Handschriften und persönlichen Zeugnissen ist.
Freilegung von source codes
Doch unabhängig vom zeitbedingten Dispositiv handschriftlicher Individualisierung intendiert die Ausstellung »Notation« des Bildwissenschaftlers Hubertus von Amelunxen, des Künstlers Dieter Appelt und des Medientheoretikers Peter Weibel – mit ihren rund 500 Exponaten von über 100 KünstlerInnen – keineswegs die Feier des privaten Relikts, sondern die Freilegung von source codes des prädigitalen Zeitalters als Permutationsketten im Sinne des von Friedrich Kittler forcierten Begriffs der Aufschreibesysteme.
Diese elementaren Schaltkreise auf der Ebene von Zeichnung, Filmkadern, Photo- und Schallexperimenten auf dem Weg zur Integration der Apparate in die künstlerische Produktion bilden die Schnittstelle zur gegenwärtig aktuellen Etablierung von Sonic Visual Acts im Kontext der bildenden Kunst. Jenen institutionellen Fokussierungen, die kürzlich noch das Visionäre von Digi-Culture der späten 1980er und 1990er Jahre im Blickfeld hatten, folgen daher zunehmend retrospektive Schwenks auf die Pionierzeit systemischer Ton-Bild-Codierungen. Schon 2004 brachte das Pariser Centre Pompidou eine Archäologie der Transferbewegungen zwischen Klanglichem und Visuellem, zwischen Architektur und Licht, Sound und Projektion im Verlauf des 20. Jahrhunderts unter der Headline »Sons&Lumieres«. Ebenfalls beginnend bei Film-Avantgardisten wie Oskar Fischinger, Len Lye oder Norman McLaren ging die Zeitreise damals zu Künstlern wie Paul Klee oder Boris Bilinsky unter Einbeziehung von Mary Allen Bute und spezifischen Positionen von La Monte Young, um schließlich über zahlreiche Ausläufer das Gravitationsfeld Fluxus anzusteuern. Dass auch das MOMA als einer der globalen Kulminationspunkte der Moderne – mit »Looking at Music« – 2008 auf die fortdauernde Faszinationskraft früher Medienkunst und Soundart reagierte, überrascht kaum, bildete doch New York als kulturelle Hauptstadt des 20. Jahrhunderts eines der Zentren für genresprengende Produktion und Rekontextualisierung von Bedeutungen mit Vordenkern wie John Cage, Marcel Duchamp, Edgar Varese, Robert Rauschenberg, Louise Borgouis, Merce Cunningham oder Trisha Brown.
Virtuelle Kämpfe um algorithmische Hegemonien
Als »Notation« auf seiner ersten Station in der Akademie der Künste in Berlin vergangenes Jahr in Szene ging, erhielt das Projekt von der Fachkritik Höchstnoten und wurde zum kulturellen Reiseziel. Dass es nun im ZKM bis 26. Juli, also bis weit nach dem Venedig-Basel-Rummel, gezeigt wird, erscheint naheliegend. In Wien würde die Ausstellung als geistesgeschichtliches Netzwerk, das eine Vielzahl von Praxisfeldern berührt, ins MAK passen. So ließen sich Vergleichsmomente zum virulenten Bereich der Sound-Art aufbauen. Medial protokolliert jedoch werden meist nur Jugend akkumulierende Großereignisse mit Fortschrittsbonus. Während die großen Maschinen wie das überbordende Sonar und das Electronic Art Festival in Barcelona gemeinsam mit Sonic Acts in Amsterdam oder den alljährlichen Berliner Electronic- und Medien-Kunst-Events ihren unaufhaltsamen Lauf nehmen, platziert sich in der österreichischen Bundeshauptstadt neuerdings mit finanziellem Treibstoff aus der Wirtschaftsförderung, und dementsprechend mit »Future« gelabelt, die Ausstellung »Sound Frame« – in Kombination mit einer Unzahl an Side-Events auf dem kybernetischen Dominofeld; diesmal immerhin mit Schlaglichtern auf die Frühzeit filmischer Experimente der 1920er und 1930er Jahre. Ohne Frage bleibt es unumgänglich, die Gegenwart mit all ihren Vorschlägen für weiterreichende Perspektiven abzubilden. Vor allem lassen sich die heutigen Klassiker auf diesem Terrain nicht mehr bloß personell anhand von Protagonisten wie Ryoichi Kurokawa und Alva Noto festmachen, sondern führen ihren Wettlauf um algorithmische Hegemonie unter Signaturen wie “MAX/MSP/JITTER“, resolume, modul8, arkaos oder vjamm in den virtuellen Sphären des digitalen Zwischendecks.
Dennoch gilt es, Relationen aufzubauen, um die kritische Praxis genau in jenem ephemeren Feld von VJ-ing und »Sound and Visual« zu forcieren. Dazu lässt sich der im Katalog von »Notation« textlich bedauerlicherweise unterbelichtete virtuelle Rekonstruktionsversuch d
es Phillips Pavillons der Brüsseler Weltausstellung in der Ausstellung im ZKM Karlsruhe geradezu idealtypisch heranziehen. Bis heute gilt die teils in Vergessenheit geratene Membrankonstruktion mit ihren hyperbolisch-paraboloiden Flächen als eines der bedeutendsten Medienkunstwerke des 20. Jahrhunderts. Entworfen hat diesen im Inneren diversifizierten Klang-, Licht-, Projektions-Raum, mit seinen wechselnden Intensitäten im Inneren, der zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreiche, mathematisch expressiv arbeitende Komponist Iannis Xennakis. Als Architekt arbeitete er im Pariser Atelier von Le Corbusier. Le Corbusier wiederum war musikalisch extrem versierter Mitherausgeber der avantgardistischen Musikzeitschrift »L’Esprit Noveau« und lud in seiner Funktion als Generalkurator des Pavillons Edgar Varese ein, für 300 Lautsprecher im Inneren, die über ein System aus Tonbändern und Schallplatten angesteuert wurden, zu einem komplexen Ablauf von teils konkreten, teils abstrakten Projektionen ein vorwiegend elektronisches Musikstück zu komponieren. Mehr als zwei Millionen BesucherInnen durchschritten zwischen 17. April und 19. Oktober 1958 die Architektur des Phillips Pavillons mit der multidimensional ausgestrahlten Acht-Minuten-Komposition »Poéme Eléctronique« von Edgar Varese zu Le Corbusiers Projektionen zur Evolution der Menschheit, die nicht naiv vom Fortschritt erzählten, sondern auch Fotos aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern enthielten. Auf historisch einzigartige Weise hatte das Zusammenwirken von Tontechnik, Bildprojektion, architektonischer Form, musikalischer Avantgarde, Event und Kritik den zu dieser Zeit äußerst möglichen Punkt erreicht.
Notation. Kalkül und Form in den Künsten bis 26. Juli 2009, ZKM | Karlsruhe www.zkm.de/notation