Tony Conrad ist immer gut aufgelegt, nicht nur wenn er in Brooklyn Tage hindurch seine Geburtstage feiert. Dem Publikum des Filmmuseums in Wien dürfte eine 2008 gehaltene Lecture, bei der er hämisch grinsend seine besten Kochrezepte offerierte, auf Dauer in Erinnerung bleiben. Jedem Cineasten würden diese zwar den Magen umdrehen, doch setzte er damit bedeutende Markierungen in der Medienkunst, wenn er zum Beispiel seinem mit Eierscheiben, Fleisch und Gemüse zubereiteten »Sukiyaki« einen Filmstreifen beilegte und diesen dann mit allen daraufklebenden Zutaten zum Dinner durch den Projektor jagte. Solche Appetit anregenden Angriffe gegen die saubere Moderne in der Film-Avantgarde und die Ideologie von Reinheit und Purity im Kunstraum landete Conrad in den 1970er Jahren. Wie in seiner musikalischen Arbeit, in der die Kooperation mit dem Theatre of Eternal Music – dem John Cale, La Monte Young, Angus MacLise und Marian Zazeela angehörten – steht, ging es ihm stets darum, konventionelle kulturelle Feldabgrenzungen zu überschreiten und Rollenmuster zu unterlaufen, wenn er sich als Bad Boy der avancierten Kunstszene gab.
Schon im Jahr 1966 manifestierte sich das Grenzgängertum dieser zentralen Figur der US-amerikanischen Avantgarde in dem heute bahnbrechenden Filmstreifen »The Flicker«, der als maßgebliches Werk des strukturellen Films gilt. Durch direkte Bearbeitung des Filmmaterials rief Conrad ein rhythmischen Pulsieren von schwarzen und durchsichtigen Kadern hervor, das stroboskopische Lichtblitzen glich, welche die Retina so lange angriffen, bis in den Augen des Publikums (imaginierte) Farben und Formen zu entstehen begannen.
Die konzeptuelle Position des sämtliche Rollenbilder immer wieder aufbrechenden Künstlers, Musikers, Komponisten und Filmemachers Tony Conrad war nur eine von mehr als 20 Präsentationen, welche die Frankfurter Schirn Kunsthalle jüngst im Rahmen des Großausstellung »Zelluloid, Film ohne Kamera« vorführte. Conrad war hier mit »Curried 7302«, einem ebenfalls nach ausgewählten Rezepten zubereiteten Werk, vertreten. Durch Erhitzung in Verbindung mit diversen Zutaten wurden die in der Filmemulsion lagernden Farbschichten nach und nach freigelegt und so unvorhergesehene abstrakte Farbspiele hervorgebracht.
In der Reminiszenz erwähnenswert ist diese genauso wie ein einzigartiges Konzert und eine unwiederbringliche Inszenierung seriell aneinandergereihter, intimer Kinoräume in der Schirn Kunsthalle – nicht bloß als Ausstellungsereignis, das Randzonen der Filmgeschichte bearbeitete. Vielmehr wurde vor dem Hintergrund der Vielzahl von Retrospektiven, die sich den medialen und an die akustische Avantgarde rückgebundenen transgressiven Strömungen der bildenden Kunst widmeten, ein aus heutiger Sicht zentraler Bereich der Medienkunst aufgearbeitet und vermittelt. Zahlreiche Konzepte der Sound-Art und noch mehr die kollaborativen Projekte im Transmissonsbereich von Neuer elektronischer Musik und abstrakten Videoproduktionen speisen sich zum Großteil aus der Ideenwelt des Direct Cinema, der Visual Music oder Color Music auf Filmstreifen, hergestellt ohne Kamera.
Die Schirnkunsthalle zeigte eine Reihe solcher Filme, die nicht mit konventionellen Geräten, sondern durch die direkte Bearbeitung des Filmstreifens mit Chemikalien, Lebensmitteln, Ritzwerkzeugen oder etwa durch kuriose Akte wie temporäres Vergraben entstanden; allerdings nicht auf DVD oder Video umkopiert, sondern – soweit als möglich – tatsächlich in der Haptik und Lichtqualität des filmischen Materials. Dafür entwarf das Berliner Büro »Raumlabor«, ein aufwendiges, schallsicheres und doch offen wirkendes Raumkonzept, das durch zueinander abgeschrägte Projektionsräume in wohltuendem Kontrast zu den mit schwarzen Kuben zugeräumten Museumsräumen stand.
Als ein Pionier des abstrakten Films gilt der Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den 1930er-Jahren existierendes Material durch einen Spektografen in monochrome Farbbilder zerlegte und rhythmisch arrangierte. Eine Pionierarbeit des künstlerischen Experimentalfilms ist sein Film ?A Colour Box, das als Gründungswerk des »handpainted film« gilt. Seine coolen Visuals werden begleitet von La Belle Creole, gespielt von Don Baretto and his Cuban Orchestra. Wesentlich erfrischender als die an ein Bauhaus-Disney-Theater erinnernden Filme eines Oskar Fischinger.
Die Tradition des »direct film« wurde schließlich im amerikanischen Avantgardefilm der Nachkriegszeit weitergeführt. Der Künstler, Filmemacher, Folkmusik-Sammler und Okkultist Harry Smith (1923-1991) war einer der schillerndsten Protagonisten des Genres. Im handgemalten Film entdeckt er Ende der 1940er-Jahre die Möglichkeit, seine mystisch inspirierte Malerei mit seinem Interesse für Musik zusammenzuführen. Geprägt vom Werk und den Theorien Wassily Kandinskys, aber auch von Drogenerfahrungen und östlicher Philosophie, produzierte er mit Hilfe der Malerei und aufwendiger Stempelverfahren mehrere abstrakte Filmen von eindrucksvoller Komplexität. Rhythmisch pulsierende Formen und Farben erzeugen per Filmstreifen protopsychedelische Bildwelten.
Aber auch selten in diesem Kontext rezipierte, neuere Arbeiten wie »Impresiones en la alta atmósfera« (1988/89) des baskischen Malers José Antonio Sistiaga (*1932) brachte diese von Esther Schlicht zusammengestellte Compilation analoger Visuals. Sistiaga arbeitete sein Universum der bewegten Bilder aus Tausenden von minutiös durchgezeichneten Einzelbildern in Farbe aus, während Dieter Roth (1930-1998) ähnlich handwerklich vorging und Buchstabenfolgen in Zelluloid ritzte. Mühsame Feinarbeiten, die an traditionelles Kunsthandwerk erinnern, von den KünstlerInnen jedoch im Dienste einer visionären medienreflexiven Haltung auf sich genommen wurden. Seine Arbeit an dem Streifen »Free Radicals« beschrieb Len Lye folgendermaßen: »Ich wand meinen ganzen Körper, um eine Spannung in meinen Schultern zu erzeugen – versuchte ein angestrengtes Gefühl höchster Präzision in die Finger beider Hände zu leiten, welche die Nadel hielten, und mit einer plötzlichen Bewegung trieb ich die Nadel durch das Zelluloid und vollendete einen Entwurf.«
Dass es zum Teil einfacher geht, zeigen die zahlreichen Rückgriffe auf Found Footage, also bereits belichtetes und irgendwo gefundenes Filmmaterial. In der konzeptuellen Transformation des magischen Materials Film scheint das deutsche Künstlerkollektiv Schmelzdahin (1983-1989) jenen Weg fortzusetzen, den Tony Conrad beschritt. Bloß mit anderen Mitteln durch die Verwandlung des Materials über brutale chemische, bakteriologische oder thermische Eingriffe in die Filmemulsion. Beispielsweise vergruben Schmelzdahin den französische Film »Ville en flamme«, einen Sommer lang in der Erde, um ihn so einem natürlichen materiellen Zerfallsprozess auszusetzen. So entstand die Film-Arbeit »Stadt in Flammen« (1984). In der Emulsionsschicht siedelten sich Bakterien an, was zu einer partiellen Auflösung der Bilder führte. Während des anschließenden Kopierverfahrens wurden zudem Teile des Filmstreifens zum Schmelzen gebracht. Damit nicht genug: Schmelzdahin malträtierten das fragile beschädigte Filmmaterial auch mit einer Nähmaschine, um in einem Kopiervorgang Bild für Bild zu vervierfachen und mit einer Tonspur zu versehen.
Hier werden längst nicht mehr neue formale Lösungen allein angestrebt. Die Arbeit mit dem filmischen Material wird zur übersteigerten Metapher für existentielle Aktionen; auch wenn diese beinahe absurde Dimensionen annehmen. Den amerikanischen Filmemacher Stan Brakhage, der zu einer der zentralen Persönlichkeiten des experimentellen Films zählt – und zu dessen Bildwelten Sonic-Youth-Gitarrist Lee Ranaldo in eigens dafür ausgerichteten Performances übrigens improvisatorische Soundkonzepte entwirft — hat in seinem Film »Mothlight« (1963) eine radikal subjektive Meditation über Leben und Tod geschaffen. Auch dieser Streifen bezieht seine Wirkungsmacht aus direktem, kame
ralosem Bildverfahren. Es ist eine flackernde Komposition aus Mottenflügeln, Gräsern, Blüten und Blättern, die genauso irreal wie bereits vergangen wirken; also aufgezeichnet. Brakhage ordnete die lichtdurchlässigen Insektenflügel nach musikalischen Grundregeln auf Filmstreifen und erzeugte so bewegt-bewegende Bilder als fragile Schönheit von Strukturen und Farben, die sich auf andere Weise kaum erzeugen ließen.
Wie vergänglich selbst derart aufwendig vorbereitete Ausstellungsprojekte sein können, zeigte sich gerade an diesem Punkt. Zurück bleibt jedoch die Erinnerung an eine seltene Intensität wie nach einer sensiblen musikalischen Darbietung. Zurück bleibt auch ein sorgfältiges Buch, das als Katalog dieser Strömung der Avantgarde auch grafisch einen Eindruck von dieser Musik für die Augen im Halbdunkel des Kinosaals, verbunden mit Kurzporträts all dieser Produktionen, zu vermitteln versucht.