Kids plündern die Kleiderschränke ihrer Eltern. Thomas Gottschalk grinst bei »Wetten, dass ..?« in die Kamera. ABBA veröffentlichen ein neues Album. Und das, obwohl sie bereits vor Jahren versprachen, die Welt mit ihrem Schunkel-Sound in Zukunft zu verschonen. Allein: Die skandinavischen Grinsekätzchen um die Ex-Eheleute Anni-Frid Lyngstad und Benny Andersson haben sich genauso versöhnt wie Agnetha Fältskog und Björn Ulvaeus – um endlich wieder gemeinsam Musik zu machen, eh klar. Vielleicht sollte Derrida mit seinen Geistern der Vergangenheit doch Recht behalten. Das Totgeglaubte kehrt zurück, sucht uns heim, fällt über uns her. Immer und immer wieder. Mit »Voyage« ist schließlich das neunte Studioalbum der Schwedenbomben erschienen. Eine Platte für Menschen, die in Schlaghosen zur Sonntags-Matinee in den Musikverein marschieren, sich aber heimlich zum Fünf-Uhr-Tee die Diskografie der Amigos reinziehen.
Nostalgie als Geschäftsmodell
ABBA ist ein Phänomen aus einer anderen Zeit. Wen man auch fragt, niemand will jemals auf einer Silvesterparty sturzbesoffen zu »Money, Money, Money« auf dem Tisch getanzt, niemand mit Absicht eine ihrer Platten ins Ikea-Regal gestellt haben. Manche behaupten sogar cool, noch nie von dieser Band gehört zu haben. Trotzdem hat das Imperium ABBA über 400 Millionen Alben verkauft. Behauptet zumindest die Plattenfirma. Damit sollten die Festgeldkonten der ehedem zerstrittenen Viererpartie gut gefüllt sein – allein die Tantiemen für Songs wie »Dancing Queen« oder »S.O.S« dürften in der Vergangenheit ausgereicht haben, um viermal im Jahr für drei Monate in den Urlaub zu fahren.
Gründe für Reunion samt Album und Release-Tour? Fehlanzeige! Niemand braucht ABBA 2021. Trotzdem geht das Stockholm-Syndrom um. Dass die Tournee im eigens aus dem Boden gestampften ABBA-Stadion zu London trotz Ticketpreisen von 200 Pfund und mehr längst ausverkauft ist – geschenkt! Dass ABBA dort nicht einmal auftreten, sondern nur ihre Hologramme, sogenannte ABBAtare, auf Bildschirme tänzeln lassen – egal! Dieselben Menschen, die sich in den 1970ern statt Lametta noch Nietengürtel um die Taille gezogen haben, wollen heute einen Teil ihrer Jugend, die sie nie hatten, zurück. Es geht um ihre Erinnerung. Oder das latente Gefühl von Wärme, das sich einstellt, wenn man auf das Wechseln des Urinbeutels vergisst.
»Es ist alles seltsam«, sagte Björn Ulvaeus zu Apple Music. »Seltsam, dass uns auf einmal wieder zwei Millionen Menschen auf TikTok folgen.« Doch nichts daran ist wirklich seltsam. Es ist allenfalls gespenstisch, weil etwas existiert, das gar nicht existieren dürfte. Die Menschheit leidet unter Phantomschmerzen. Nostalgie tritt ein. Die hilft, ein Gefühl der Kontrolle wiederzuerlangen, indem wir uns an Dinge erinnern, die einst Halt gaben – selbst wenn diese Dinge nie wirklich existierten. Zweck ist die romantisierte Illusion, auf die sich alle einigen können. Nicht Sex, Drugs und Rock’n’Roll stehen im Fokus, sondern gute Laune, Leichtigkeit und Freude an einem Leben im abbezahlten Vorstadthäuschen mit beheiztem Pool. Die Schlagertruppe aus Schweden kommt gerade recht, um der drohenden Gefahr des neoliberalen Gedächtnisschwunds entgegenzutreten. »The Winner Takes It All« wird trotz, oder gerade wegen der Veröffentlichung des neuen Albums auf zukünftigen Gartenpartys über Bluetooth-Boxen plärren.
Eskapismus in Zeiten der Krise
»Voyage« beglückt uns zu einer Zeit, in der wir aufgehört haben, uns die Gegenwart vorzustellen. Das Album ist Symptom einer Krise, die niemand benennen will. Eine, die in apathischen Zyklen den einzigen Fortschritt in der Stagnation und in der regelmäßigen Veröffentlichung des neuen iPhones wahrnimmt. Das Album ist deshalb bereits ein Klassiker, bevor es zur Veröffentlichung kommt. Es ist erlebte Geschichte ohne Referenz. Eine Simulation. Denn: Wenn wir die Gegenwart nicht kontrollieren können, können wir zumindest kontrollieren, wie die Gegenwart zur Vergangenheit wird. Und damit zu einer Erinnerung verkommt, die wie ein Polaroid-Foto verblasst. ABBA schreiben damit Geschichte. Allerdings die Geschichte einer Krise, die sie mit »Voyage« weiterführen. Wer wissen will, wie das klingt, muss sich das Album nicht anhören, sondern nur den ersten Titel davon lesen. »I Still Have Faith In You«, ich glaub’ noch dran, an diese Welt, die nicht mehr ist, vielleicht nie war. Und die nach Telegram-Gruppen von Xavier Naidoo die größte Lüge der Menschheit ist.
Natürlich wissen die Marketing-Spezis um ABBA, dass es der größte Fehler wäre, ein bewährtes Konzept zu ändern. Niemand, der sich in der Vergangenheit in nüchternem Zustand auf die Musik von ABBA einließ, will sich mit Experimenten auseinandersetzen. Deshalb ruckeln keine Trap-Beats über das Gesäusel, deshalb schranzt kein Techno-Geballer ins La-La-Land. ABBA machen das, was man von ihnen erwartet. Oder erwarten will. Sie liefern, indem sie einen Kanon bespielen, den sie sich seit dem Sieg beim Song Contest 1974 selbst auf den glitzernden Hosenanzug geschnitten haben: Happy-Sound in einer Happy-World, in der Happy-People ein Happy-Life führen. »Voyage« ist Soma für die Gegenwart, die nur noch in der Erinnerung existiert. Dort – und nur dort – aber nicht nur existiert, sondern zu einem Soundtrack gedeiht, bei dem James Last vor lauter Freude im Grab rotiert. Mittfünfziger lassen ob des Gedächtnistriggers die Modelleisenbahn stehen. Andere verkaufen ihren Porsche. Und eilen zurück. In eine Vergangenheit, die niemals war. Mit ABBA aber doch für immer sein wird.