Es ist Freitagvormittag beim Crossing Europe Filmfestival 2019 und in der Eingangshalle des Moviemento in Linz tummeln sich die Menschen. Eher durch Zufall treffe ich meine Filmentscheidung: der einzige Film, bei dem die Warteliste noch nicht gar so lang ist. Einige Momente später sitze ich auch schon im Kino und der erste Film beginnt. »Srbenka«, ein Dokumentarfilm des kroatischen Regisseurs Nebojsa Slijepcevic, verfolgt die Entstehung eines Theaterstücks, das die Gewalt an Kindern im serbo-kroatischen Krieg behandelt. Im Subtext geht es aber eigentlich um den noch immer gegenwärtigen, nationalistischen Konflikt. Der Film macht einen tiefen Eindruck auf mich. Eine halbe Stunde später sitze ich aber auch schon im nächsten Kinosaal, wo dieser Eindruck durch die sehr merkwürdige Erzählung einer Schweizer Frau kontrastiert wird, die scheinbar vom »Tüüfu« besessen ist. Als sie in »Der Unschuldige« von Simon Jaquemet von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, muss sie sich von ihren fanatisch angehauchten, christlichen Genoss*innen exorzieren lassen. Das i-Tüpfelchen auf der Liste der konterkarierenden Eindrücke spielt dann aber für diesen Tag die ukrainische Produktion von Roman Bondarchuk. »Volcano« schildert die absurde Geschichte eines OSCE-Beamten, der durch eine Reihe unglücklicher Zufälle schließlich dazu gezwungen ist, eine neue Identität in der armen und kleinen Stadt Beryslaw anzunehmen. Gleichermaßen befriedigt wie positiv überfordert beende ich den (für mich) ersten Festivaltag.
Ein breites Spektrum
Die 16. Ausgabe des Crossing Europe Filmfestivals, das von 25. bis 30. April in Linz stattgefunden hat, lieferte durch die zahlreichen Kategorien und Möglichkeiten sowie das dichte Rahmenprogramm eine wirklich große Auswahl, bei der absolut für jede*n Cineast*in etwas dabei sein musste. Es ist dem Team des Crossing Europe dabei speziell hoch anzurechnen, dass neben den Wettbewerbsfilmen eigenständige Kategorien mit wechselnden Schwerpunkten für Dokumentarfilme und Spielfilme sowie individuell noch eigene kleine Programme zusammengestellt werden konnten. So hatte am diesjährigen Festival die von mir sehr geschätzte Kategorie »Working Worlds« den Untertitel »Independent Women« und zog Filme vor, die Frauen in zentraler Stelle in Arbeitswelten zeigten. Ebenso war in der Kategorie »Architecture and Society«, die in diesem Jahr den besonderen Schwerpunkt auf den Zusammenhang »Raum, Zeit, Geschichte« legte, eine wunderbare Harmonie des Filmprogramms zu erkennen.
Neuigkeiten und Besonderheiten
Auch wenn die meisten der Filme leider nicht in Österreich und wenn, dann nur in sehr ausgewählten Kinos laufen werden, möchte ich am Rande dennoch einen Film erwähnen, der in besonderer Weise meine Aufmerksamkeit erregte. Der Film »Consequences« des slowenischen Regisseurs Darko Štante thematisiert die Unterbringung straffällig gewordener jugendlicher Männer und erzählt in diesem Kontext eine Art von Liebesbeziehung zweier Bewohner einer dieser Einrichtungen. Der Film wie die Diskussion mit Štante war mit Sicherheit eines meiner berührendsten Kinoerlebnisse: Was das Crossing Europe durch die Auswahl seines Programms nämlich auch immer wieder erschafft, ist die Möglichkeit, in komplett gegensätzliche Welten einzutauchen und nach eineinhalb Stunden in ihnen plötzlich eingelebt zu sein. Fremder könnte mir die Welt einer betreuten Einrichtung für gewalttätige jugendliche Männer in Slowenien nämlich kaum sein. Und dennoch wirft ihre Problematisierung ganz viel grundsätzlichere Fragen auf. Und zwar nicht nur über Slowenien, sondern ebenso über Österreich. Sehr schön an dem Festival ist, dass gerade durch die Unterschiede zwischen den einzelnen Filmemacher*innen ein so vielschichtiges Bild erzeugt wird, dass sich in ihm jede*r wiedererkennen kann.
Letzterer Film ist übrigens aus dem Programm der im vergangenen Jahr neu dazugekommenen »YASS«-Schiene von Crossing Europe, die sich speziell auf Filme über Jugendliche konzentriert und diese auch mittels einer eigenen Jugendjury bewerten lässt.
Ausblick
Wer es dieses Jahr nicht aufs Crossing Europe Filmfestival geschafft hat, der kann sich trotzdem freuen, nachdem doch zumindest einige speziell der deutschen und österreichischen Produktionen auch ins Kino kommen werden. So kann vor allem auf den Eröffnungsfilm »Systemsprenger« von Nora Fingscheidt hingewiesen werden, der vermutlich im Herbst seinen Kinostart in den österreichischen Kinos haben wird und schon am Festival großes Lob einheimste. Ebenso verhält es sich auch mit der österreichischen Produktion »Nevrland« von Gregor Schmidinger (Kinostart: 13. September 2019) und »Das melancholische Mädchen« von Susanne Heinrich, der sogar schon vor dem Sommer in den österreichischen Kinos laufen wird (Kinostart: 28. Juni 2019). Ansonsten bleibt natürlich noch zu sagen, dass es das Linzer Filmfestival selbstverständlich auch im nächsten Jahr geben wird und die 17. Ausgabe des Crossing Europe 2020 vermutlich wieder zur gewohnten Zeit Ende April/Anfang Mai stattfinden wird.
Link: www.crossingeurope.at