© Polyfilm
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»As if I’m drowning in a flood of words«

Jerry Rothwells dokumentarische Annäherung an die Welt autistischer Kinder »Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann« (im Original: »The Reason I Jump«) gibt in lyrischer Weise Einblicke in noch umformulierte Narrative und hinterfragt unsere eigenen Selbstverständlichkeiten.

»As soon as I try to speak with someone, my words just vanish. There’s a gap between what I’m thinking and what I’m saying.« Diese und weitere Gedanken entstammen dem 2013 in englischer Übersetzung erschienen Buch »The Reason I Jump« von Naoki Higashida (im japanischen Original erschienen 2007), welche die Eigenerzählungen eines 13-jährigen (!) autistischen Jungen beinhaltet. Dieser machte durch diese 135 Seiten lange Aneinanderreihung von Gedankenimpulsen erstmals etwas möglich, das aufgrund der vermeintlichen Unverfügbarkeit von Sprache bei Menschen mit Autismus bisher unmöglich erschien: einen Einblick aus First-Person-Perspektive in die Welt eines Kindes, welche uns gemeinhin als völlig unberechenbar erscheint. Dabei ist diese scheinbar strukturlose Welt ein Raum, in dem oft mehr Potenzial für Gedanken und Momente der Berührung herrscht als in unseren gewohnten und geordneten Denkbahnen. Jerry Rothwell hat es geschafft, diese von Übersetzer David Mitchell als solche benannte lyrische Sprache Higashidas in einem Dokumentarfilm so zu inszenieren, dass man gebannt ist vom Unsagbaren und doch gleichzeitig den Spiegel vorgehalten bekommt.

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»Everything related back to water and light«

Während in sanften Einspielungen Passagen aus Higashidas Buch gelesen werden, trägt Jerry Rothwell die Narrative verschiedenster Kinder mit Autismus aus der ganzen Welt – von Indien bis Afrika, von Europa bis in die USA – zusammen und verbindet diese gekonnt mit den Gedankensträngen Higashidas. Die sinnliche Welt von Menschen mit Autismus wird dabei besonders in den Fokus gerückt, was unter anderem durch die langsamen Impressionen der Protagonist*innen gelingt, die den Zuschauenden einen sehr greifbaren Zugang zur Erfahrungswelt der Kinder verschaffen. Dabei ist genau diese Brücke so schön, die hier zwischen »Innen« – den Gedanken Higashidas – und »Außen« – der Wahrnehmungswelt aller porträtierten Kinder – geschlagen wird. Denn es ist hier, wo der größte Unterschied zwischen den Erfahrungsmöglichkeiten von Menschen mit und ohne Autismus liegt: Die Verbindung des Innen mit dem Außen folgt anderen Regeln. Beziehungsweise scheint es, als wäre »Regeln« hier überhaupt der falsche Begriff, weil die Gesetze unseres »geordneten« Weltbezugs als Ultima Ratio stark hinterfragt werden. Es lässt einen selbst stutzig darüber werden, wie und wann wir diese Strukturen gelernt haben, und eröffnet die Frage, inwiefern es nicht vielleicht genauso gültig ist, wie Higashida schreibt, dass wir zum Beispiel durch Wasser und Licht zu Verständnis von etwas kommen und nicht durch komplexe und verwortbare Rationalisierungen.

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»My memory is like a pool of dots«

»Time is a continuous thing without clear boundaries which is why it’s so confusing. In my head there isn’t such a big difference between what I was told just now and what I heard a long long time ago.« Die Grenzzonen, die hier ganz selbstverständlich von Menschen mit Autismus gelebt werden, zeugen dabei von etwas, das wir als Gesellschaft und Kultur schon immer auf verschiedensten Wegen zu erreichen oder zu verstehen versucht haben. Seien das Paradoxien in der Zeitwahrnehmung, körperlich-sinnliche Extremzustände oder das Lossagen von unseren »geregelten« Formen, zu sehen, zu hören oder uns auszudrücken: All das sind Dinge, die in anderen Kontexten wie in der Kunst oder anderen Körperpraktiken nicht nur akzeptiert, sondern sogar bewundert werden. Fängt ein autistisches Kind unerwarteterweise an, das immergleiche Wort zu schreien, stigmatisieren wir diese Erfahrung im Regelfall als »Defekt« und schieben es der psychischen Erkrankung zu. Wobei hier auch im Film sehr klar unterschieden wird, wie hier verschiedene Kulturen Stigmatisierungen im sozialen Gefüge verschieden verarbeiten. Klarerweise ist der Leidensdruck in vielerlei Hinsicht für autistische Menschen enorm, doch – wie der Film zeigt – oftmals aus dem simplen Grund, nicht verstanden zu werden, wo doch so viel auszudrücken wäre.

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»In search of somewhere where I felt at ease«

Dass etwa die Praxis des Buchstabierens mithilfe sogenannter »Letter-Boards« eine taktile Möglichkeit ist, auch komplexe Inhalte zu vermitteln und so autistischen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu höherer Bildung zu gewähren, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch fehlt es an sehr viel grundsätzlichem Verständnis dafür, inwiefern andere Formen, die Welt zu erfahren, weder etwas »Mystisches« sind (wie es teils ja auch mit den Forschungen zur Schizophrenie im 20. Jahrhundert passiert ist), noch etwas »Abnormes«. Der Druck, der von autistischen Menschen empfunden wird, wenn alles an Erlebtem da ist, aber nicht in derselben Form verbalisiert und nach Außen gebracht werden kann, muss einen, nicht anders, als der originale Buchtitel suggeriert, »springen« lassen: »As a child I used to wander out from home – it wasn’t because I wanted to go out for a special reason: my body leaved because it was lured by something there in search of somewhere where I felt at ease.«

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»Saying things with your mouth isn’t the same as communication«

Was bedeutet es, miteinander zu kommunizieren? »Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann« hebt die aller menschlichen Interaktion zugrundeliegende Grundprämisse aufs Podest: Es ist die eine Sache, dass wir wahrnehmen und unser Außen erleben, doch es ist gleichzeitig ein inhärent menschliches Bedürfnis, diese Impressionen auch zu teilen, in Beziehung zu treten und eine Möglichkeit zu finden, sich in diesen entstandenen Räumen zu bewegen. Es ist selbstverständlich, zu glauben, wir könnten jemals den Erfahrungshorizont einer anderen Person aus ihrer Perspektive vollends nachvollziehen. Doch bleibt Kommunikation, egal auf welche Art und Weise, die beste Annäherung dazu, es zu versuchen und diesem grundmenschlichen Bedürfnis nachzugehen, unser Erleben kundzutun. Auch Naoki Higashidas persönliches Zeugnis sowie Jerry Rothwells dokumentarische Verfilmung desselben zeigen andere Formen auf, in denen Kommunikation passiert, seien diese abweichende Ausdrucksformen oder einfach ein neues Eindringen in seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten. In jeglicher Hinsicht lädt der Streifen zum Nachdenken ein und zeichnet mit größtem Respekt das Bild einer Welt, in der Bedeutung und Wahrhaftigkeit durch ihre ganz eigenen Sprachen florieren.

Österreichischer Kinostart ist der 1. April 2022. Am 2. April 2022 um 16:00 Uhr gibt es außerdem anlässlich des Welt-Autismus-Tages ein Special-Screening im Filmcasino mit anschließendem Podiumsgespräch.

Link: https://www.polyfilm.at/film/warum-ich-euch/

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