Nach dem Ende der Geschichte
Parallel zur reaktionären Zerschlagung der Arbeiter*innenorganisationen durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher – man denke an »TINA/There is no alternative« (Fisher 2009) – hat auch der »Homo Academicus« (Bourdieu 1992) »in fortgeschrittenen Gesellschaften, wo Universitäten zu Organen des Konzernkapitalismus geworden sind« (Eagleton 2012: 160) dafür gesorgt, Marx und den Marxismus auf das Ûbelste zu delegitimieren und intellektuell zu schmähen. Dies stand etwa mit dem Rechtshegelianismus eines Francis Fukuyama in Zusammenhang, der die historisch aberwitzige Proklamation vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1992) zwar später teilweise zurücknahm, aber zu diesem Zeitpunkt (direkt nach dem Fall der Mauer) eine neokonservative Ideologie (Mannheim 1984) vertrat, nach welcher der bürgerliche Rechtsstaat im Sinne des Neoliberalismus nunmehr das einzige weltgeschichtliche Endstadium darstellen würde, das nur mehr in alle Winkel dieser Welt exportiert werden müsse. Das Silicon Valley arbeitet auch heute noch an diesem Ziel. Dem setzte sich Jacques Derrida in äußerst luzider Manier entgegen (Derrida 2004a), indem er mit Nachdruck betonte, dass absehbar sei, dass die gänzliche Freisetzung des Kapitalismus against all rules zu immensen sozialen und ökonomischen Devastierungen führen würde und deshalb die Gründung einer neuen Internationale vonnöten sei. Derrida formulierte 1993:
»Wenn es einen Diskurs gibt, der heute dazu tendiert, auf der neuen Bühne der Geopolitik die Oberhand zu gewinnen (in der Rhetorik der Politiker, im medialen Konsens, was den sichtbarsten und hörbarsten Teil des intellektuellen und akademischen Raums betrifft), dann ist es jener, der in allen Tonlagen, mit unerschütterlicher Selbstsicherheit nicht nur das Ende der Gesellschaften diagnostiziert, die nach marxistischem Vorbild konstruiert waren, sondern auch das Ende der ganzen marxistischen Tradition und damit der Referenz auf das Marxsche Werk, um nicht zu sagen das Ende der Geschichte überhaupt.« (ebd.: 84-85)
Genau darin sah Derrida – so atheistisch wie Marx – das neue »Evangelium über den Tod des Marxismus als Ende der Geschichte« (ebd.), um gerade nach dem Fall der Mauer im Sinne einer »Hantologie« (frz. hanter = engl. to haunt) Marx und damit auch den Marxismus, Kommunitarismus bzw. Kommunismus weiter gespenstern zu lassen. »Whither Marxism« (ebd.: 6). Denn – parallel zu Bourdieu – standen ihm die unfassbaren Devastierungen des Kapitalismus klar vor Augen, weshalb er herausschreien musste:
»Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen. […] Kein Fortschritt der Welt erlaubt es, zu ignorieren, daß in absoluten Zahlen noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer, Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder ausgelöscht wurden.« (ebd.: 121)
Nicht von ungefähr widmete Derrida dieses Buch deshalb einem Kommunisten als Kommunisten, nämlich Chris Hani, der im Gegensatz zu Nelson Mandela auf hohe Ämter im ANC verzichtete, um sich erneut einer kommunistischen Splittergruppe anzuschließen (ebd.: 7). Derrida wusste genau, was er politisch tat und begriff sich schlussendlich als ein Sohn von Marx (Derrida 2004b). Dabei war es für ihn klar, dass dieses mit Chris Hani verbundene Gespenst eine gauchistische und buchstäblich radikale Kritik mit sich bringt:
»Sich weiter von einem gewissen Geist des Marxismus inspirieren zu lassen, das würde heißen, dem treu zu bleiben, was aus dem Marxismus im Prinzip immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat, das heißt ein Vorgehen, das bereit ist, sich selbst zu kritisieren.« (Derrida 2004a: 125)
Mitten im Elend der Welt: Globalisierung ist Kapitalismus
Hatte Derrida mit seiner Kritik an Fukuyama mithin im globalen Feld der Philosophie dem neoliberalen Rechtshegelianismus Elemente des Linkshegelianismus entgegengesetzt, wies Pierre Bourdieu 1993 mit »La Misère du monde/Das Elend der Welt« (1997) auf sozialempirischer Ebene nach, dass der innere Zusammenhalt und die Solidarität der französischen Gesellschaft durch den Neokonservatismus und Neoliberalismus samt seiner Zerstörung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats bereits auf das bedenklichste zu bröckeln begann (ebd.). Dies führte ihn zu einer »staatslinken« Position, die er in seinen Vorlesungen am Collège de France ausformulierte (Bourdieu 2014) und die ihn nach der Enttäuschung durch den »dritten Weg« Lionel Jospins – dessen Politik mit jener von Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder oder Franz Vranitzky deckungsgleich war – zur Gründung von Attac bewog. All dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem jene Stimmen immer lauter wurden, die behaupteten, es gäbe kein Proletariat mehr und schon gar nicht als »revolutionäre Klasse«.
De facto war der Fall der Mauer aber auch die totale konterrevolutionäre Vernichtung und strategische Niederlage des durch eineinhalb Jahrhunderte hindurch langsam organisierten weltweiten Proletariats am Ende des Kalten Krieges, der darin bestand, die russische Oktoberrevolution in konterrevolutionärer Absicht null und nichtig werden zu lassen, um damit die Schlagkraft der Proletarier*innen zu annullieren. Was Hitler auf dem Weg nach Moskau wegen Stalingrad nicht gelungen ist, erledigten dann Helmut Kohl und Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Immerhin die letzte Leistung der KPdSU, die der russischen Bevölkerung statt Arbeitsplatzsicherheit und kollektivem (staatlichen, öffentlichen) Eigentum an der »Basis« freie Meinungsäußerung und bürgerliches Privateigentum im »Ûberbau« garantierte. Nach 1989 – wir erinnern uns auch an die Ausschaltung des russischen Parlaments durch Boris Jelzin – wurden öffentliche Gelder und mithin der staatliche Besitz binnen kürzester Zeit durch eine Welle von Privatisierungen zerschlagen, wodurch es einer neuen Oligarchie gelang, diese Ressourcen an sich zu reißen (Losurdo 2016: 302). Heute geht es mit Sicherheit den Bevölkerungen der ehemaligen realsozialistischen Staaten im Durchschnitt keineswegs besser als vor dem Fall der Mauer. Die zweite Welt krachte in die dritte Welt und die erste Welt akkumuliert sich in ihren eigenen Tod durch Amoklauf (Berardi 2016; Theweleit 2015).
Die westlichen Gesellschaften haben als Teil des kapitalistischen Weltsystems genau deshalb die »proletarischen« Tätigkeiten in die Peripherien (z. B. Bangladesch) ausgelagert, wodurch der Kapitalismus in den ressourcenstarken Zentren nicht mehr mit organisiertem Widerstand des Proletariats rechnen muss. Stattdessen konnte die gezielte Entsolidarisierung und systematische Individualisierung der arbeitenden Bevölkerungen in Gang gesetzt werden: »Proletarier aller Länder, vereinzelt euch!« In diesem Sinne hielten auch die Marxisten Deleuze und Guattari 1972 fest:
»Und wenn tatsächlich zumindest partiell im Zentrum der tendenzielle Fall der Profitrate oder deren Egalisierung spürbar wird, was die Ökonomie auf die fortgeschrittensten und automatisiertesten Sektoren sich verlagern läßt, so sichert eine wahrhaftige ›Entwicklung der Unterentwicklung‹ an der Peripherie die verstärkte Ausbeutung des hier ansässigen Proletariats gegenüber dem des Zentrums, wie ein Ansteigen der Mehrwertrate.« (Deleuze/Guattari 1974: 297)
Das ist in kurzen marxistischen Worten die ganze Geschichte von Kolonialismus, Imperialismus und »Globalisierung«. In Wahrheit sind ausgehend von diesem Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie auf unserem Globus rein quantitativ heute mehr Menschen in die Peripherie gezwungene »Proletarier*innen« – und seien es Hilfsarbeiter*innen in Wien Liesing – im Sinne der Klassenlage der prekären Lohnabhängigkeit und -ausbeutung als jemals zuvor in der Geschichte. Aus diesem Grund wird in der analytischen Reaktion auf die Verhältnisse in den westlichen Gesellschaften von »Kognitariat« – also die virtuell nicht organisierbare Klasse der mentalen Wissensarbeiter*innen – und »Prekariat« gesprochen (Böhning 2006; Standing 2015). Kognitariat nennt sich dieses neue Proletariat, weil mit ihm das Wissen (engl. knowledge, fr. savoir) endgültig zur unmittelbaren und primären Produktivkraft unserer Gesellschaften geworden ist, wie Marx es mit berühmten – maschinen- und medientheoretisch äußerst wichtigen – Worten prognostizierte:
»Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind.« (Marx 1974: 594)
Von der Wissenskraft des generellen Intellekts: Prekariat
Dieser general intellect ist heute mit Sicherheit die entscheidende Produktivkraft, wodurch traditionelle Handarbeit in unseren westlichen Wissens- und Informationsgesellschaften mehr und mehr durch (digitalisierte) Kopfarbeit ersetzt wurde, wenngleich sich an den grundlegenden Dynamiken und Mechanismen des Kapitalismus (Braudel 2011), wie das wichtigste politische Pamphlet der Moderne – das »Kommunistische Manifest« – sie herausragend und mit prognostischer Kraft zu Papier brachte (Hobsbawm 2012: 108-128; Marx/Engels 1999) – nichts geändert hat. Seit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals im 16. Jahrhundert, die im Ûbrigen auch nach dem Fall der Mauer schlicht genauso brutal wiederholt wurde, laufen die Mechanismen der kapitalistischen »Höllenmaschine«. Deshalb betonte auch Franco »Bifo« Berardi, dass die traditionellen Arbeitsverhältnisse sich in der Wissensgesellschaft zwar transformiert haben, aber nichtsdestotrotz brutale Ausbeutungsverhältnisse darstellen. Er hielt dahingehend fest:
»Das Wort ›Prekariat‹ steht im Allgemeinen für jenen Bereich der Arbeitswelt, der nicht mehr durch feste Regeln in Bezug auf die Arbeitsbeziehung, das Gehalt und die Dauer des Arbeitstags definiert werden kann. Wenn wir jedoch die Vergangenheit analysieren, sehen wir, dass diese Regeln nur für einen begrenzten Zeitraum in der Geschichte der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital funktionierten. Nur für eine kurze Zeit im Herzen des zwanzigsten Jahrhunderts, unter dem politischen Druck der Gewerkschaften und Arbeiter, unter Bedingungen der fast erreichten Vollbeschäftigung und dank einer mehr oder weniger stark regulatorischen Rolle des Staates in der Wirtschaft. So hat die natürliche Gewalt der kapitalistischen Dynamik die politische Kraft der Arbeiterbewegung begrenzt und die natürliche Prekarität der Arbeitsbeziehungen im Kapitalismus sind samt ihrer Brutalität zurückgekehrt.« (Berardi 2010: 32-33) [1]
In diesem Sinne war es einer der brutalsten und zerstörerischsten Angriffe auf Marx und den Marxismus (Hobsbawm 2012), zu behaupten, es gäbe in den westlichen Wissens- und Informationsgesellschaften bzw. Dienstleistungsgesellschaften eben kein Proletariat und mithin auch keine revolutionäre Klasse mehr. Marxistisch betrachtet ist jede schlagkräftige Organisation abhängig von einem institutionell durch Partei[en], Gewerkschaft[en], Vorfeldorganisation[en] und Medien verankerten »Klassenbewusstsein« – also dem Grad an reflexiver Einsicht in die eigene individuelle und kollektive Klassenlage. Dadurch war auch die prinzipielle Legitimität von Revolution(en), Revolten oder Aufständen (von der englischen über die französische bis zur russischen Revolution, von den Maschinenstürmern bis zu den Student*innen des Mai 1968 oder der Occupy-Wall-Street-Bewegung) diskursstrategisch durch eine ganze Reihe von historischen Revisionismen delegitimiert (vgl. dementgegen Lagasnerie 2016). Denn dass die Klasse(n) der Kognitarier*innen und Prekarier*innen (als Proletarier*innen) nicht solidarisch sein können, ist selbst klarerweise ein Effekt ihrer systematischen Entsolidarisierung, Desorganisation, Individualisierung und Isolierung, die – parallel zu einer bürgerlichen Doppelmoral – auch durch repressive Ûberwachungs- und Bestrafungstechnologien moralisch aufrechterhalten wird (Foucault 1976), indem informationstechnologische (IKT) Ûberwachungsstrukturen im Sinne ideologischer Staatsapparate (Althusser 2016) den sozialen Raum als paranoische Dispositive der Steuerung, Kontrolle und Disziplin (Ballhausen/Barberi 2014) durchziehen (siehe etwa die zwanghafte Facebook-Nutzung der Digital Natives, die ununterbrochen und unbezahlt an ihrem Curriculum Vitae herumbasteln müssen). Dadurch wird noch die letzte Lebenswelt bis in die geringsten Poren kapitalistisch besetzt und ausgebeutet. Angesichts von Google, Amazon und Co. handelt es sich dabei um neofeudale Formen der »digitale(n) Leibeigenschaft, gegen welche die analoge des Absolutismus als harmlos erscheint« (Gremliza 2017). Der Widerstand gegen diesen Neofeudaliamus und Neokolonialismus – dies unterschätzt Gremliza indes in gravierendem Maße – wird sich indes nicht ohne digitale Mittel organisieren lassen.
Requiem for the American Dream
Weiters ist es bemerkenswert, dass Noam Chomsky in der ihm gewidmeten Dokumentation »Requiem for the American Dream« (Hutchison 2015) jüngst eingehend die fatale Konzentration von Reichtum und Macht – und das ist »Das Kapital« – in den Händen der amerikanischen Eliten analysierte. Indem Chomsky die Geschichte der amerikanischen Arbeiter*innenbewegung rekapituliert und – ähnlich wie Eric Hobsbawm (1999), Pierre Bourdieu (2014) und Jürgen Habermas (1998) – luzide erläutert, was durch die Zerstörung des »goldenen Zeitalters« (vgl. noch einmal Hobsbawm 1999: 285-499) des New Deal und des Sozialstaats an Devastierungen folgte, wird begreiflich, weshalb im heutigen Rust Belt, dessen meist weiße Arbeitslose auf Donald Trump hoffen. Der anarchosyndikalistische Sozialist (Chomsky 2004: 187-230) – der indes am MIT typisch anti-amerikanische Schwierigkeiten bekommt und (deshalb) auch welche hat, seine Position als marxistisch zu bezeichnen (Hutchison 2015: TC: 00:25:53) – operiert dabei deutlich mit dem Konzept des Klassenkampfs, wenn er vom »prekären Proletariat« (Precarian Proletariat) spricht, das er als die arbeitende Bevölkerung dieser Welt begreift, die zunehmend prekäre Lebensverhältnisse akzeptieren muss (ebd.: TC: 00:29:26). Ganz in diesem Sinne hielt der Amerikaner Chomsky – genau wie der Ire Eagleton und der Italiener Berardi – an anderer Stelle fest, dass dieses neue Proletariat als Prekariat durch die systematische Zerschlagung von Gewerkschaften (Reagan/Thatcher), die Flexibilisierung der Finanzmärkte und die Deregulation (des Sozial- und Wohlfahrtstaats) auf globaler Ebene entstand:
»Vor zehn Jahren haben radikale italienische Arbeiteraktivisten zu Ehren des 1. Mai ein sehr nützliches Wort geprägt: ›Prekarität‹. Es verwies zunächst auf die zunehmend prekäre Existenz arbeitender Menschen ›an den Rändern‹ der Gesellschaft – Frauen, Jugendliche, Migranten. Dann erweiterte es sich auf das wachsende ›Prekariat‹ der Kernarbeitskräfte, das ›prekäre Proletariat‹, das unter den Programmen der Gewerkschaftszerschlagung, Flexibilisierung und Deregulierung leidet, die Teil des Angriffs auf die Arbeit in der ganzen Welt sind.« (Chomsky 2011) [2]
Conclusio: Die Idee des Sozialismus im 21. Jahrhundert
Um es zu wiederholen: In verschiedenen Nationen wurde diese Analyse der Zerschlagung des Sozial- und Wohlfahrtstaates von »alten neuen Linken« ebenfalls vorgestellt: in den USA eben durch Chomsky, in Großbritannien durch Hobsbawm, in Frankreich durch Bourdieu und in Deutschland durch Habermas oder Manfred Frank (Frank 1999), weshalb hierzulande die Verwerfungen zwischen Bourdieu und der Frankfurter Schule so schnell wie möglich abgebaut werden sollten (Bauer 2014). Die Zerschlagung (Speed Kills als Schockstrategie) greift in den Klassenkampf ein und multipliziert durch die Medien die sich manipulativ einhämmernden Territorialisierungen des Kapitalismus. Diese Territorialisierungen (wie etwa der Gemeinplatz einer, aus Sicht des Profits, »unbezahlbaren« Sozialversicherung) schneiden die Proletarier*innen voneinander ab und erschweren ihre Kooperation. So müssen sie nicht nur einen durch Burn-outs, Psychiatrierungen oder Inhaftierungen (Davis 2003; Jackson 1994) geschädigten individuellen Körper verarbeiten, sondern auch den Verlust ihres kollektiven Körpers erleiden, der sie erst irgendwie lokal, national, kontinental oder global repräsentieren (Barberi 2001; Sonderegger 2016) und damit auch organisieren und aktivieren könnte. Die von Ingeborg Maus hervorragend über Rousseau und Kant archäologisch gehobene »Volkssouveränität« der Französischen Revolution wird mithin im Klassenkrieg, einem »gnadenlose(n) Wirtschaftskrieg« (Derrida 2004b: 116) mit allen strategischen (und kybernetischen) Mitteln abgeschossen (Maus 2011). Deshalb greift auch der von Chantal Mouffe vorgeschlagene »Linkspopulismus« (etwa Podemos oder Syriza) nur in geringem Maße (Errejón/Mouffe 2016; Mouffe 2014, 2016).
Von der sozialempirischen Nicht-Existenz der Proletarier*innen kann aber genau deshalb am Beginn des 21. Jahrhunderts keine Rede sein. Wenn im Empire (Hardt/Negri 2002) des Faschisten Donald Trump der Common Wealth (Hardt/Negri 2010) mit brachialen Schockstrategien (Klein 2014, 2014) zerstört wird, muss das, was als Globalisierung nur oberflächlich begriffen wird, auf den Punkt gebracht werden: Globalisierung ist nur das neue Wort für die weltweite Brutalität eines marktradikalen und gänzlich zerstörerischen Kapitalismus 4.0 mit allen technologischen Updates (Ditfurth 2009). Die Arbeiter*innenklasse ist in diesem globalen Zusammenhang ideologisch hinsichtlich ihres Organisationsgrades schlicht am niedrigsten intellektuellen und organisatorischen Punkt seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert angelangt (Thompson 1987) und in einem unfassbar (klassenunbewussten) desaströsen und gänzlich verwirrten und desorientierten Zustand. Hier hilft nur eine radikale Reideologisierung (Habermas 2009) und volkssouveräne Demokratisierung im Sinne eines (vorsichtigen) an der Volkssouveränität, die mit der faschistischen Volksgemeinschaft eben nichts zu tun hat, orientierten Linkspopulismus der die Idee des Sozialismus (Honneth 2015) im Sinne eines »Back to the roots!« als »Back to the future!« ins 21. Jahrhundert trägt (Dieterich 2006).
Anmerkungen
[1] Ûbersetzung aus dem Englischen von A. B.: »The word ›precariat‹ generally stands for the area of work that is no longer definable by fixed rules relative to the labor relation, to salary and to the length of the working day. However if we analyze the past we see that these rules functioned only for a limited period in the history of relations between labor and capital. Only for a short period at the heart of the twentieth century, under the political pressures of unions and workers, in conditions of (almost) full employment and thanks to a more or less strongly regulatory role of the state in the economy, some limits to the natural violence of capitalist dynamics decline in the political force of the workers’ movement, the natural precariousness of labor relations in capitalism, and its brutality, have reemerged.«
[2] Ûbersetzung aus dem Englischen von A. B.: »A decade ago, a useful word was coined in honor of May Day by radical Italian labor activists: ›precariat‹. It referred at first to the increasingly precarious existence of working people ›at the margins‹ – women, youth, migrants. Then it expanded to apply to the growing ›precariat‹ of the core labor force, the ›precarious proletariat‹ suffering from the programs of deunionization, flexibilization and deregulation that are part of the assault on labor throughout the world.«
Literatur
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Bildlegende
Abb. 1: Diego Rivera – »Marx« © Creative Commons: Wolfgang Sauber
Abb. 2: Francis Fukuyama © Creative Commons: Gobierno de Chile
Abb. 3: Slum in Bangladesch © Creative Commons: SusSanA Secretariat
Abb. 4: Franco »Bifo« Berardi – »Precarious Rhapsody«
Abb. 5: Noam Chomsky © Creative Commons: Kelly Maeshiro
Abb. 6: Heinz Dietrich – »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts«
Nachlese:
Mit Marx durch den März: Auftakt zu den Karl-Marx-Wochen (04.03.2017)
Marx gespenstert und hat Recht (04.03.2017)
Von Klassen und Klassifikationen (11.03.2017)
Von Proletariat, Kognitariat und Prekariat (19.03.2017)
Die Mannigfaltigkeit der Klassenkämpfe (25.03.2017)
Von der Internationale zum Neokommunismus (04.04.2017)