Selbst wer abgebrüht, erfahren und vertraut ist mit aktuellen Strategien kritischer künstlerischer Praxis, sieht sich früher oder später provoziert durch die Arbeit des Santiago Sierra. Bloß zu konstatieren, Sierra gehe bis an die Grenzen des Möglichen oder seine Werke wären »on the edge«, bleibt eher Floskel. Unweigerlich drängt sich außerdem die Frage auf, ob Sierra nicht einfach mit der Skandalisierung seiner Person zündelt, um lediglich sich selbst ins Rampenlicht zu stellen. Leicht verdaulich und einfach kompatibel für Small talk sind seine Interventionen nämlich kaum, wenn er etwa – wie bereits im project space der Kunsthalle Wien – bezahlte Personen unterschiedlicher Ethnien in der Art nebeneinander anordnete, dass ein Farbverlauf entsprechend der Hauttönung entstand. Die radikale Reduktion des Einzelnen auf die Hautfarbe. Für seine Performance »250 cm line tattooed on 6 paid people« zahlte Sierra jungen Kubanern das supergeile Honorar von 30 Dollar, um sich nebeneinander stehend eine durchgehende Linie in den Rücken tätowieren zu lassen.
Was oberflächlich wie das Spiel mit der Sensationsgier des Publikums aussieht, ist jedoch die Spiegelung des sich tagtäglich selbst übertreffenden Zynismus eiskalter gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Mensch auf ein lächerliches Stück Ware reduziert wird. Sierra wird nicht müde hervorzustreichen, dass seine künstlerische Arbeit Partei ergreifen möchte für das vom Kapitalismus zerstörte Leben. »Und Kapitalismus ist für mich die ökonomische Spielart des Sadismus.« (Sierra)
Im rheinischen Städtchen Pulheim-Stommeln allerdings erteilte er der Kunst als Terrain für subtilen Diskurs endgültig eine Absage. Dort leitet Santiago Sierra in das Gebäude einer ehemaligen Synagoge tödliche Autoabgase ein. Betreten nur mit Gasmaske. Platter konnte die an die Shoah erinnernde Symbolik wohl kaum daherkommen. Formal allerdings sind die zumeist streng minimalistisch aufgebauten Arbeiten Sierras genau durchdacht und stehen zum Großteil in der Tradition der arte povera. Santiago Sierra (geboren 1966 in Madrid), der in den 1980ern in Madrid und dann in Hamburg studierte, ist außerdem geprägt durch die politisch orientierte Performance der 1960er und 1970er Jahre.
Seit er 1995 nach Mexico City übersiedelt ist, spitzt er seine Arbeit durch die extremen Erfahrungen in der Mega-City sukzessive zu. Nicht immer unterläuft er nur eingeschliffene Formen der Wahrnehmung, sondern oft auch die reale Ordnung im Alltag; wenn Sierra etwa mit einen Schwertransporter den Verkehrsfluss einer Stadtautobahn der mexikanischen Hauptstadt nahezu zum Erliegen bringt. In einem System, das ökonomisch und menschlich gerade komplett aus dem Ruder gerät, erzeugt er unentwegt neue Formen der Spiegelung der Verhältnisse. Trotz scheinbarer Simplizität seiner Konzepte lässt sich kaum abschätzen, wie die performativen Versuchsanordnungen Sierras letztlich ausgehen. Die Unberechenbarkeit liegt auch auf Seiten der Rezeption. Im Rahmen des donaufestivals in Krems möchte Santiago Sierra nun mit Häftlingen der Justizanstalt Stein experimentelle Sessions mit der von dem Psychologen Engelbert Winkler und dem Neurologen Dirk Pröckl entwickelten Lampe »Lucia N°03« durchführen. Ähnlich wie bei der in Richtung Transzendenz gehenden Nahtoderfahrungen, verspricht die Lampe durch die Kombination von Stroboskop- und Konstantlicht extrem positive Erlebensweisen wie das Gefühl von Körperlosigkeit oder das Sehen intensiver Farb- und Formwelten. Typisch für Sierra ist, dass das Publikum nicht unmittelbar an dieser Inszenierung mit Häftlingen teilnimmt, um den Voyeurismus in Grenzen zu halten. Vielmehr existiert das Werk dann in seiner medialen Vermittlung als Video, das im Rahmen des Festivals präsentiert werden soll. Na, let’s see.
SANTIAGO SIERRA Lucia & the Prisoners @ donaufestival
Fr., 25.4. 18.00-20.00 Uhr
Sa., 26.4. 10.00-20.00 Uhr