Die Texte dieser Serie erinnern daran, wie eigentümlich unentschlossen Karl Marx in der deutschsprachigen Welt rezipiert wird. So wurden Deleuze und Foucault ihre Marx-Stachel rausredigiert, dabei hatte es Foucault beispielsweise geschafft, mit seiner Selbstdefinition als »Nietzscheanischer Kommunist« sowohl in West- als auch in Ostdeutschland in den Häfen einzufahren. Seien wir den Franzosen dankbar, sie haben in ihrem Denken mit Marx dessen einzig schmerzliche Lücke gefüllt: den Sex. Im zweiten, Noël Akchoté gewidmeten Teil ruft Barberi den immer noch brandaktuellen Bezug zwischen Wikileaks und der veränderten medialen Öffentlichkeit in Erinnerung, zeigt sich hier doch, wie die Kräfte der Bourgeoisie und die von ihr betriebene Kontrollgesellschaft langsam auf paranoid drehen. Und letztlich zeigt der vorliegende dritte Teil, wie uns etwas potenziell sehr Schönes genommen zu werden droht, im Generalangriff auf unsere Bildungsstätten, die zu »Hitparaden der Intellektuellen« degenerieren und ansonsten dämliche Unterwerfungsriten initiieren. Unbedingt lesen!
Lenin sollte auf Drängen des marxistischen Teils der Studentenschaft drei Vorträge an der Ecole des hautes études halten, die in Paris von vertriebenen russischen Universitätsprofessoren organisiert wurden […]. Ich entsinne mich, daß Wladimir Iljitsch vor seiner ersten Vorlesung sehr aufgeregt war. Auf dem Pult jedoch beherrschte er sich sogleich – mindestens äußerlich. Professor Gambarow, der gekommen war, ihn zu hören, formulierte Deutsch gegenüber seinen Eindruck derart: »Ein richtiger Professor!« Das hielt er wohl für das höchste Lob.
(Leo Trotzki, »Mein Leben«; zit. nach Pierre Bourdieu, »Homo Academicus«)
Man wird also dazu gebracht, Marx zu anthropologisieren, aus ihm einen Historiker der Totalitäten zu machen und in ihm das Vorhaben des Humanismus zu finden […]. Die gleiche konservative Funktion ist bei dem Thema kultureller Totalitäten am Werk, weswegen man Marx kritisiert und dann verfälscht hat […].
1. Kybernetische Selektionsmaschine Universität
»The Elephant Man«, David Lynch (1980), Bild: Brooksfilms
Das Erziehungs- und Bildungssystem stellt – vom Kindergarten bis zur Universität – ein Dispositiv der Unterwerfung dar, das die proletarische und kleinbürgerliche Spreu vom bürgerlichen und mehr noch aristokratischen Weizen zu trennen hat. Im brutalen Kampf um Anerkennung werden – nicht zuletzt über die »bürokratische Taufe des Wissens« (Marx) per Titelvergabe – politische Selbstzensur und der Befehl zum politischen Kompromiss mikrophysikalisch in die sozialen Felder des Wissens integriert und regeln so noch die Art und Weise, in der akademisierte Subjekte schreibend sich zugleich unterwerfen und gesellschaftliche Unterdrückung ausüben. Akademische Herrendiskurse verwalten und zerschneiden vertikal sowie horizontal im Sinne einer rechten und d. i. neoliberalen Regierungsmentalität die Figurationen des Gemeinsamen, Solidarischen und Kooperativen ebenso wie die legitimen Ansprüche auf Mitsprache und demokratische Umverteilung von Diskurs und Eigentum des Wissens.
Diagonaler Widerstand und transversaler Widerspruch werden dabei politisch pathologisiert, gerastert, herrisch erniedrigt, unter Verdacht gestellt und exkludiert. Die universitäre Rede – hergestellt in einem empirisch messbaren ideologischen Produktionsfeld – ist damit immer schon von betriebswirtschaftlichen Mechanismen durchsetzt, in denen Inklusion und Exklusion im Sinne eines kybernetischen Ein- und Ausschaltens von subalternen und d. i. (kleinbürgerlichen und mehr noch proletarischen) infamen Leben implementiert sind. Dabei greifen die wissenschaftlichen AkteurInnen als Regulatoren des Wissens tief und brutal in die Lebenszyklen und Lebenswelten der Menschen, der Familien und damit der Bevölkerungen ein, transformieren den Gesellschaftskörper und folgen gerade deshalb den kapitalistischen Konjunkturen und Zyklen der Märkte wie die Pariser Haute Couture: Manchmal sind die Röcke der Wissenschaft kurz und manchmal sind sie lang, hielt Bourdieu diesbezüglich treffend fest. Nachweisbar wird so, nach welchen Regeln die Kategorien des professoralen Verstehens innerhalb dieses (Finanz-)Marktsystems des akademischen Wissens funktionieren. Nachweisbar wird auch, dass sie im Gegensatz zur theatralischen Selbstinszenierung eher Dummheit reproduzieren. Die kybernetische Selektionsmaschine der professoralen Klassifikationen besteht als Bewertungsmaschine nach Bourdieu tatsächlich aus rituellen Beschimpfungen und Blütenlesen des Stumpfsinns, die auch als Diagramm darstellbar sind und von denen gesagt werden kann:
»Das Diagramm lässt sich als Schema einer Maschine [sic! A. B.] ansehen, die mit sozial bewerteten Produkten gefüttert wird, um dann schulisch bewertete Produkte auszuspucken. Allerdings fällt bei dieser Betrachtungsweise ein wesentliches Moment der von ihr geleisteten Transformation unter den Tisch: Tatsächlich sorgt diese Maschine [sic! A. B.] für eine enge Korrespondenz zwischen Eingangsbewertung und Ausgangsbewertung, ohne je die sozialen Kriterien und Prinzipien der Bewertung zu kennen oder auch (offiziell) anzuerkennen. [sic! A. B. …] Sie funktioniert gemäß der Logik der Verneinung – sie tut das, was sie tut, unter Formen, die zeigen sollen, daß sie es nicht tut.«1
2. Von intellektuellen Hitparaden und rollenden Köpfen
»The Life of David Gale«, Alan Parker (2003), Bild: Universal
Diese maschinenartigen Verneinungen und Verwerfungen werden von autoritären Charakteren, von »Zombies« (Deleuze/Guattari) also in Gang gesetzt, deren Haupttätigkeit darin besteht, die sozialen Bedingungen der Wissenschaft und des Wissenschaftsbetriebs systematisch auszublenden. Wer richtet also, fragte Prof. Bourdieu, angesichts der »Hitparade der Intellektuellen« über die »Legitimität der Richter«? Und wer wagt es, sich an der Universität am Naheliegendsten – namentlich an der illegitimen Herrschaft der professoralen Machtausübung – zu vergreifen, wenn nach der jahrelangen infantilisierenden Ûberwachung die Strafe ganz einfach »subjective(n) Verfolgung« (Karl Kraus) heißt?
Der Gegenschlag der feudalen Geistesaristokratie – vor der in diesem Teilfeld der (deutschen) Gesellschaft sogar die Bürgerlichen buckeln – ist so sicher und total(itär) wie ein Todesurteil oder eine Vierteilung. Letztere ist nachweislich auch historisch an die Aristokratie, das Ancien Régime und den »Speckkopf Ludwigs XVIII.« (Marx) geknüpft. Ist also – wie Foucault meinte – der Kopf des (universitären) Königs (auch in der juristischen Theorie) noch nicht gerollt? Ist mithin die wissenschaftliche Community angesichts dieser Repräsentations-, Klassifikations- und Deklarationskämpfe nichts anderes als eine kapitale ideologische und ideologisierende Fiktion, welche den Zwist der professoralen Eitelkeiten im Namen der (unkritischen und daher theologischen) Wahrheit verdecken soll? Dies sind rein rhetorische Fragen.
Denn wer an dieser Stelle Störfunktionen, Fehlzündungen oder Gegenschläge vorbereitet, wer also versucht, diesen »Willen zum Wissen« (Foucault) und zur Wahrheit umzubiegen bzw. demokratisch – und d. h. immer auch glasklar antikapitalistisch – umzupolen, findet sich schnell in den Schandklassen der vermeintlich um Erkenntnisinteressen ringenden Wissenspolizisten wieder, die bei Tag und bei Nacht ihrerseits unbewusst darum kämpfen, ihre (symbolischen) Kapitalien an ihren machiavelli(sti)schen Fürstenhöfen zu steigern, um sich (daher auch die alltagssprachliche Rede vom »Hirnwichser«) am Untergang des Anderen (d. h. Konkurs oder Ausgleich) aufzugeilen. Sadomasochistische Spiralen der Macht mithin. Die zwei Körper des Professors … und der zerfetzte Körper Damiens vor Notre-Dame. Beinharte und herrschende Ideologie ist es deshalb, die unpolitische und objektive Neutralität der Wissenschaft auch nur anzunehmen. Eine Annahme, die erst recht den Blick auf die Brutalität der Auslese verstellt.
3. Militante Geistesaristokratie der Wissensmärkte
»Inception«, Christopher Nolan (2011) Warner Brothers
Nach wie vor gilt also: Die Geschichte (des Wissens) ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, die in unseren Schulklassen beginnen. Die Universität ist dabei nichts anderes als eine »Staatsmaschinerie« (Marx), ein »ideologischer Staatsapparat« (Althusser) des Wissens und als solche(r) ein Instrument der herrschenden Klasse. Wissensgeschichte verfügt sich mithin sehr genau mit der Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus. Wenngleich sich der soziale und mediale Raum der Universität von anderen Institutionen sozialgeschichtlich dadurch unterscheidet, dass der Bourgeoisie seitens der Aristokratie erfolgreich Widerstand entgegengesetzt wurde. Deshalb gilt als oberster Fixpunkt in diesem Wahrheitsspiel – vornehmlich in den deutschen Bildungsanstalten – die Aristokratie des Geistes, deren Burschenschafterhiebe mit aller (deutschen) Härte tief ins Fleisch des Sozius schlagen und Schmisse, Wunden im Gesellschaftskörper des (universitären) Proletariats (d. h. Kognitariats bzw. Prekariats) hinterlassen.
Was geht den akademisierten Geistesaristokraten denn ein so niedriges Thema wie soziale Ungleichheit an, wenn in Frage steht, was Goethe meinte? Was schert er sich um die Lebenswelten von Arbeitslosen oder den Ausgleich von gesellschaftlichen Unterschieden, wenn er gerade einen (göttlichen) Ruf erhalten hat? Was interessieren ihn die sozioökonomischen Problemlagen der Lohnabhängigen, wenn er als Diva beim Vorsingen im feudal-bürgerlichen Theater so endlos berauschenden Applaus durch Stellenerhöhung – und d. i. Akkumulation von symbolischem Kapital – erhielt? Weshalb sich also um das Elend der Welt kümmern, wenn es doch um das eigene philosophische Elend geht? Weshalb sich in die Niederungen des Sozialen oder gar des Sozialismus begeben und sich zum Alltag des Pöbels herablassen?
Die akademischen Blue Chips dieser herrschenden Klasse, das sind – darin durch nichts von in der Hölle gelandeten feudalen Bankstern á la Richard Severin Fuld Jr. von Lehman Brothers zu unterscheiden – die Aktien der Publikationen und die an American Football erinnernden Rankings der (vermeintlichen) Eliteuniversitäten. Rankings, Publikationslisten, Nachrufe und Stellungs- bzw. Postenkriege sind insofern nichts anderes als Spiegelungen der Macht-, Herrschafts- und Kräfteverhältnisse der Wissensproduktion. Und genauso müssen sie gelesen, dechiffriert und decodiert werden. Apple oder Harvard, HSBC Holding oder Oxford, Siemens oder RWTH Aachen, Nestlé oder ETH Zürich, OMV oder WU Wien … Am (bzw. kurz vor seinem) Ende macht der Kapitalismus mit seiner militanten Trennung von Wissenschaft und Politik alle(s) gleich und alles platt.
4. Unterdrückte Unterdrücker als CEOs
Pink Floyd – »The Wall«, Alan Parker (1982),
Bild: Goldcrest Films International/Metro-Goldwyn-Mayer (MGM)/Tin Blue
Die europäischen Bildungsinstitutionen sind mithin klassenspezifische Hirnmarterungsstätten und kafkaeske Strafkolonien der moralisierenden Einschreibung, die veraltete, stupide und (scheinbar) unpolitische Wissensformen in die Körper einbrennen und von Kindesbeinen an ein grausames und alptraumhaftes Gedächtnis der Unterwerfung in den Seelen verankern. Vielmehr ideologische Einbildung als befreiende Bildung übertragend, verkommen die Institutionen der Wissenschaft zu Exekutionsfunktionen wirtschaftlicher Oberkommandos. Sie dienen – gerade in Deutschland und Österreich, den Ländern des verdrängten Humanismus und der verzögerten Aufklärung – dem Aufrechterhalten einer über Jahrhunderte hin eintrainierten und kapitalistisch eingehämmerten konterrevolutionären und feudalen Untertanenmentalität, die Sozialdisziplinierung zu nennen im Grunde schon euphemistisch ist. Es geht vielmehr um das Aufrechterhalten einer (höchst konservativen) Ordnung angesichts der geringsten Möglichkeit einer demokratischen Revolution. Und Revolution, das wäre schon, wenn die (angeblich) Schwächeren gemeinsam ihre Stimme erheben würden.
Um Thomas Bernhards auf österreichische Schulen gemünzte Einschätzung mithin auf das gesamte europäische Bildungssystem auszudehnen, bleibt festzuhalten: Die Ursache für all diese bildungspolitischen Ûbel der Gegenwart sind eben die »Geistesvernichtungsanstalten«, die – frei nach Karl Kraus, der dies von der Sozialdemokratie sagte – »staatliche Institution(en) zur Vergeudung revolutionärer Energie« darstellen. Die vierte, die fünfte, die sechste Walpurgisnacht? Lassen wir uns Ähnliches von Foucault sagen, der den Mut besaß, folgende Zeilen in eben jenem Moment in den Mund zu nehmen, in dem die Diskursgesellschaft des Collège de France ihm – erstaunlich genug – eine Professur verlieh:
»Die Erziehung mag de jure ein Instrument sein, das in einer Gesellschaft wie der unsrigen jedem Individuum den Zugang zu jeder Art von Diskurs ermöglicht – man weiß jedoch, daß sie in ihrer Verteilung, in dem, was sie erlaubt, und in dem, was sie verhindert, den Linien folgt, die von gesellschaftlichen Unterschieden, Gegensätzen und Kämpfen gezogen sind. Jedes Erziehungssystem ist eine politische Methode [sic! A. B.], die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verändern. […] Es handelt sich hier, mit einem Wort, um die großen Prozeduren der Unterwerfung des Diskurses.«2
Ein Diskurs, der immer innerhalb einer gesellschaftlichen Klasse zu verorten ist und in ihr beginnt. Und so werden die akademischen Prüfer in der dogmatischen und selbstverherrlichenden Doxosophie (die die Wahrheitssuche zur Meinungsmache gerinnen lässt) ihrer Funktion als »unterdrückte Unterdrücker« (Bourdieu) gerecht, indem sie buchstäblich zu Wirtschaftsprüfern und Rating Agenturen mutieren, die zumeist (den eigenen) Kindern aus »gutem« Haus ein Triple AAA verpassen. Auch sind es die(se) Manager und Verwalter des Wissenschaftsbetriebs, welche als Chief Executive Officers des Wissens dafür Sorge tragen, dass keine politische Widerstands- oder Subjektivierungslinie durchs Netz der akademischen Menschenfischer geht. Elitenselektion erfolgt dabei im Eilschritt und auf Kommando der Macht: Jede/r platziert an ihrem/seinem Ort, fixiert auf einen panoptischen Standpunkt, sistiert bis zum Sankt Nimmerleinstag des Jüngsten Gerichts, an dem sich die Wahrheit (der Wissenschaft) absolut offenbart. Die Erinnerung an den Mai 1968 bzw. an die Tatsache, dass die #unibrennt, unterliegt daher mehrfacher Verdrängung. Doch: Nie mehr Schule! und We don’t need no education! bleibt nach wie vor eine aufgeklärte, notwendige und revolutionäre Infragestellung des bestehenden Status Quo. Denn das Wissen um Kritik verpflichtet uns nicht nur zum Ausgang aus unserer selbst verschuldeten Unmündigkeit, sondern auch aus jener dieses Bildungssystems.
1Vgl. Bourdieu, Pierre (1988): Homo Academicus, Suhrkamp: Frankfurt/M., 363-364.
2Vgl. Foucault, Michel (1996): Die Ordnung des Diskurses, Suhrkamp, Frankfurt/M., 29-30.