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Hind Meddeb »Electro Chaabi«
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Ägyptischer Electro, polnischer Suspense …

Herausragendes Kino, gewählt aus dem prallen Eröffnungswochenendeangebot. Im Fokus: Kairos Musikunderground, polnische Menschenkörper im urbanen Tarnów, in Athen gestrandete Asylsuchende aus dem Iran, Menschen am Pariser Bahnhof Gare du Nord, der Musikschwerpunkt mit »Traversing The Balkans« und abseits des Filmfestivals die genialen Videoarbeiten von Fernando Sánchez Castillo im OK, wo sich das Festivalzentrum von Crossing Europe befindet.

Ägyptens jugendliche Subkultur im Aufwind

Hineingleiten ins abgewohnte Häusermeer der Slums von Kairo. Eintauchen in die vitale, vor jugendlicher Energie vibrierende Welt der Armenviertel von Ägyptens Megametropole. Hind Meddeb, eine franko-tunesische Dokumentaristin, Journalistin und TV-Reporterin, schaut genau hin und zeigt das soziale Umfeld der »Electro Chaabi«-Miterfinder Oka und Ortega, noch vor deren unglaublichem Aufstieg zu Ruhm und Reichtum. Die Protagonisten, die ihre Namen von Fußballern ableiten, haben Rückhalt in ihren Familien – großartig etwa die Szene mit einem Hahn als Haustier, der alles andre frisst als ein Huhn normalerweise – und finden genügend Zeit, mit Freunden ihre zeitgemäße Interpretation der traditionellen arabischen Chaabi-Musik mit elektronischen HipHop/R&B-Beats und Raps samt Autotune aufzufrisieren. Die 36-jährige Meddeb gewährt aufschlussreiche Einblicke in diese selbstbewusste Subkultur, die ihre umwerfenden Sounds auf lokalen Hochzeiten und fröhlichen Partys ausprobiert. Die dankenswerterweise in Untertiteln ins Englische übersetzen Lyrics changieren zwischen Frustablassen gegenüber der politischen Herrschaft, banalem Geprotze und zum Teil tabubrechenden Anstößigkeiten. »Wir erzählen Stories von der Straße« und dabei wird darauf Wert gelegt, dass diese Äußerungen politisch sind. Nicht im Sinne von staatszersetzend, sondern gesellschaftsverändernd: »Würden Radikalislame die Macht ergreifen und die Musik verbieten, hätten sie keine Chance. Da würden alle auf die Barrikaden steigen. Ägyptens Bevölkerung ist sehr jung«. Darauf setzt im Publikumsgespräch auch die Regisseurin, die betont, dass die in jeder Hinsicht hungrige Jugend allmählich den noch dominierenden Konservatismus überwinden helfen wird. Was aber hat sich seither getan? Die Demos gegen den Moslembrüder-Präsidenten (kurz zu sehen im Film) sind vorbei, jedoch schlittert Ägypten nach der Absetzung Morsis erneut in eine präsidiale Diktatur. Oka und Ortega sind jetzt TV-Stars, verheiratet und haben nach wie vor Groupies. Selbst Hind Meddeb kann keinen Kontakt mehr zu ihnen herstellen. Das Duo hat einen Manager, spielt um EUR 10.000 für Feste von reichen Ägyptern und die Aussage eines ausgebooteten Freundes von Oka und Ortega scheint gültig für alle Popgenres, egal wo auf dieser Welt: »Sobald sie erfolgreich sind, verlieren sie den Kontakt zu ihrer Community, der sie so viel verdanken haben«.

Suspense im polnischen Tarnów

Einmal mehr zählten Filme aus der Reihe »European Panorama Fiction« zu den besten und fürwahr: sie tragen wie sie tragen wie das »European Panorama Documentary«-Kino das Festival Crossing Europe! Sehr hoch ist der Fiktionsanteil bei Anka & Wilhelm Sasnal, deren denkwürdiger Debütfilm »Z Daleka Widok Jest Piekny«/»It Looks Pretty From A Distance« (»zur Rezension) 2012 mit dem CROSSING EUROPE Award European Competition (EUR 10.000) ausgezeichnet wurde. »Huba« hat wiederum schäbige Lebensverhältnisse zum Thema, bezieht seine Kraft allerdings aus körperlich werdenden Sounds aus den Lebenswelten von einer Frau, die resignativ mit einem ausgemergelten Fabriksarbeiter zusammenlebt. Der Leib des Mannes ist ein geschundener am Ende eines harten Arbeitslebens und das Baby zehrt von jenem der Mutter. In ihrer Heimatstadt Tarnów und Umgebung blenden die Sasnals die Alltagsrealitäten der beiden Gezeichneten ineinander. Auf dem Spielplatz beginnt sich plötzlich alles zu drehen und allmählich pulverisieren einen eindringliche Sounds in die Maschinenfabrik, wo der Rückenschmerzen Erduldende malocht. Bange muss einem auch ums Baby werden. Sequenzen, wo die Mutter scheinbar das Baby im Fluss ertränken wird, oder der Mann mit ihm in der Badewanne einschläft, gehen an Herz und Nieren. Klanggetränkter Suspense, der in neue Realitäten überführt, ohne dass das Leben erträglicher werden würde. Unglaublich einprägsam auch die Szene wo der Kinderwagen auf den oberen Rängen eines Provinzstadions steht. Ûberblendet mit dem furchtbaren Lärm eines Sandspeedwaytrainings. Eine Allegorie auf die polnische Gegenwart. Gleichwohl vieles trist und beschwerlich scheint, so gibt das Baby Hoffnung. Es nimmt sich, um später geben zu können.

»Huba« war dermaßen spannend, dass ich verzichtete, den Beginn des leider eine halbe Stunde zu früh programmierten Films »Electro Chaabi« zu sehen.

Asylsuchende im Epizentrum der Perspektivlosigkeit

Auf eine andere Art und Weise ist »L’Escale«/»Stop-Over«, einer der Eröffnungsfilme, eindringlich. Regisseur Kaveh Bakhtiari begab sich direkt zu seinem Cousin nach Athen, um dort ein Jahr lang seinen ersten langen Dokumentarfilm zu drehen. Die kleine, heruntergekommene Wohnung von Amir ist gleichsam das Epizentrum der Perspektivlosigkeit. Iranische Männer warten hier darauf, in ein Aufnahmeland weiterreisen zu können, doch bleiben die meisten Gestrandete. Schwer auszuhalten ist dieses Festsitzen, ohne arbeiten zu dürfen. Nichtsdestotrotz spiegelt dieses gar nicht wie ein Sozialporno wirkende Kino mitunter humorvolle Momente und sei es nur das aus einem Heizkörper sprudelnde Wasser, nachdem die Wasserleitung gesperrt wurde. Viele Gespräche drehen sich um Schlepper, Kontakte oder Verwandte in Europa, die vielleicht doch die nötigen Papiere beschaffen können. Die Enge der Wohnung, die mangelnden Freizeitmöglichkeiten, die Tristesse des langweiligen Alltags ist kaum auszuhalten, sodass die Immigranten nach Veränderung, die bei einem Rückkehrer tödlich endet, suchen.

Das Leben feiern am Bahnhof

Weniger den Atem schnürt »Géographie Humaine«, Claire Simons Pendant zu ihrem ebenso großartigen »Gare Du Nord«, der in der »Panorama Fiction«-Reihe lief. Vielmehr ist die sparsam mit Musik von Miles Davis unterlegte Doku der französischen Regisseurin ein Juwel, wie es in Wien gar nicht mehr entstehen könnte. Weil hier in Österreich die neu gebauten Bahnhöfe fundamental dem Profitstreben geopfert wurden. Noch dazu ist der Pariser Nordbahnhof ein wunderschönes Baumanifest aus dem vorvorigen Jahrhundert. Hier gibt es noch Winkel, die Junkies, Outsider und Jugendliche nützen können. Der Gare du Nord ist das Tor nach Paris, in die Provinz, zur Welt! Mit ihrem Freund Simon Mérabet befragt Claire Simon Reisende, Passanten und am Bahnhof Beschäftigte und legt so ein buntes Mosaik aus. Humangeografie ist eine kluge Benennung dessen, was vor allem Mérabet, ein Sohn algerischer Immigranten, durch seine situationsbedingte Präsenz leistet. Nichts ist hier gekünstelt und stark wirken die Erzählungen und Einschätzungen der zahlreichen Bahnhofsnutzer. Etwa jene der schwarzen Jugendlichen, die vielen wegen ihrer Hautfarbe nicht als richtige Franzosen gelten, obwohl sie Franzosen mit Leib und Seele sind. Oder jene algerischstämmige Bahnhofsboutiquebetreiberin, die ihre dreijährige Tochter im Maghreb-Staat zurücklassen musste und sich mit ihr per Skype austauscht. Trotz manch traurig stimmender Befunde – die Globalisierung bringt mehr und mehr Ungerechtigkeit – ist Simons/Mérabets Vermessung der Bahnhofswelt eine außerordentliche, das Leben feiernde!

Diejenigen die »hängen bleiben« – die Bewohner dieses global village – bespielen wohl eine der letzten verbliebenen Bühnen dieser Art in Europa. Zu Recht bekam Claire Simon dafür den FEDEORA AWARD for European Documentaries der KritikerInnenvereinigung Fedeora (Federation of Film Critics of Europe and the Mediterranean) verliehen.


Sehnsuchtsort Gare du Nord

Naheliegend, dass auch Simons »Gare du Nord« eine Auszeichnung verdient hätte. Der junge  Soziologiestudent Ismaël saugt Tag für Tag die kleinen und großen Geschichten der Shopbesitzer, des Security- und Reinigungspersonals, der Dealer und der desillusionierten Jugendlichen am Pariser Nordbahnhof in sich auf, um seine Forschungsarbeit »Gare du Nord: A Global Village Square« weiterzubringen. Dabei begegnet ihm die ältere Geschichteprofessorin Mathilde, die den Bahnhof regelmäßig auf dem Weg zur Chemotherapie passiert. Sie teilt sein Interesse am »village« und wird selbst ein Teil davon. Beim ersten Zusammentreffen der beiden Hauptdarsteller – großartig gespielt von Nicole Garcia und Reda Kateb – wird klar, dass »Gare du Nord« auch ein Liebesfilm ist. Welch ein Schauplatz für eine unerfüllte Liebe würde sich besser eignen als ein solcher Sehnsuchtsort? Nur für einen Moment des Realen, wenn Mathilde und Ismaël miteinander schlafen werden – verlassen sie den Bahnhof. Das irritiert, so sehr hat man sich als Zuseher an den Drehort gewöhnt.

Simon versteht es, Dokumentarisches und Fiktionales vielschichtig ineinander zu verweben. Da gibt es noch den nach seiner verschwundenen Tochter suchenden TV-Moderator, die abgekämpfte Angestellte, die ihr Leben neu zu sortieren versucht und daneben die »echten« Geschichten. Meist Herkunft oder Job behandelnd, ist jede einzelne für sich hochinteressant und so könnte dieser bestechende Film ewig andauern.

Rdeca Raketa vertonen balkanische Stummfilme

Im »Focus On: Music« gelangten restaurierte Kurzstummfilme, meist aus der Zeit vor oder während des 1. Weltkriegs im großen Ursulinenhofsaal unter dem Projekttitel »Traversing The Balkans« klanggewaltig zur Uraufführung. Rdeca Raketa (Maja Osojnik und Matija Schellander) haben dieses historische Roadmovie – von Wien bis Istanbul – mit südosteuropäischen Kulturinstitutionen und dem Filmarchiv Austria konzipiert. Oft sind nur Fragmente der Amateurstreifen, touristischen Werbefilme, Kriegswochenschauen und Propagandafilme erhalten, weshalb auch Texte von damaligen südosteuropäischen Schriftstellern eingewoben werden. 2013 fanden bereits Aufführungen in Maribor, Kranj, Zabreb, Vukovar und Belgrad statt und an der österreichischen Erstaufführung gäbe es eigentlich nichts zu bemängeln. Und trotzdem stelle ich mir die Frage, ob der noisige, improvisatorische Live-Soundtrack dazu nicht etwas zu elitär abgefahren daherkommt.

Vermutlich hätte mir »Es war ein Tag wie jeder andere im Frühling oder Sommer« von Local Artist-Preisträgerin Selma Doborac, deren Kurzfilm ich aus familiären Gründen nicht sehen konnte, mehr gefallen. Doborac, übrigens skug-Abonnentin, hat darin Erlebnisse von vier Personen im Bosnienkrieg 1992 verarbeitet. Rezension wird nachgeholt.
Der CROSSING EUROPE AWARD European Competition ging by the way an Thierry de Peretti für »Les Apaches« (FR 2013) und Liliana Torres für »Family Tour« (ES 2013).

Antimilitarismo im OK Linz

Crossing Europe und das OK Offenes Kulturhaus Oberösterreich kooperieren im OK Labor und zeigten ein Crossover zwischen Film und Bildender Kunst. Fernando Sánchez Castillo hat Mahnmale und emotional aufgeladene politische Relikte zu seinem Lebensthema erkoren, weshalb sich die zwei mal besuchte Einzelausstellung »MONUMENTS AND Other Coincidences (Ûber Denkmäler und andere Zwischenfälle)« des spanischen Künstlers noch mehr ins Gedächtnis eingebrannt hat als das Festivalkino.

Mit 5,16 m ist Castillos »Tank Man«, nachempfunden jenem Chinesen, der auf dem Tiananmen-Platz Panzer aufhielt, um einen Zentimeter kleiner als Michelangelos »David«. Imposant auch »Guernica Syndrome«, ein Raum voll von Paletten mit abgewrackt-komprimierten Teilen von General Francos Privatschiff Azur. Videos zeigen jeweils den Entstehungsprozess der gigantischen Kunstwerke und ebenso grandios sind die Videos »Pegasus Dance« (poetische Panzerwasserwerferballet-Choreographie an Rotterdams Küste), »Stone Soul Army« (ein peruanischer Militärhubschrauber dient der Besatzung als Musikinstrument) und »Rich Cat Dies of Heart Attack in Chicago«. Der Titel reflektiert eine auf die Spitze getriebene Zensur und ist einer brasilianischen Zeitung entnommen, die am Tag als die Pressefreiheit abgeschafft wurde, erschien. Und der innen hohle Bronzekopf einer zu Fall gebrachten Diktatorenstatue ist nicht »umzubringen«, obwohl er über Abgründe runtergerollt, hinter Autos hergezogen oder auf ihn geschossen wird.

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Dank an Doris Hutterer für Textassistenz »Gare du Nord«.


»Electro Chaabi«
Frankreich/Ägypten 2013
Regie: Hind Meddeb, OmeU, 77 Minuten,
Weltvertrieb: www.monoduofilms.com

»Huba«/»Parasite«
Polen/GB 2014
Regie: Anka Sasnal, Wilhelm Sasnal, OmeU, 66 Minuten
Weltvertrieb: Filmpolis Agata Szymanska (www.filmpolis.eu)

»L’Escale«/»Stop-Over«
tankman1.jpgSchweiz/Frankreich 2013
Regie: Kaveh Baktiari, OmeU, 100 Minuten
Weltvertrieb: www.docandfilm.com

»Géographie Humaine«
Frankreich 2013
Regie: Claire Simon, UmeU, 105 Minuten
Weltvertrieb: www.lesfilmsdice.fr

»Gare du Nord«
Frankreich/Kanada 2013
Regie: Claire Simon, UmeU, 119 Minuten
Weltvertrieb: www.lesfilmsdice.fr

»Traversing The Balkans« – Film & Musik live
Ein Projekt von Rdeca Rakata und Filmarchiv Austria

Crossing Europe

25.-30. April 2014, Linz
www.crossingeurope.at

Fernando Sánchez Castillo
»MONUMENTS AND Other Coincidences«
28. 2.-30. 4. 2014
OK Offenes Kulturhaus OÖ
www.ok-centrum.at

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