Cut Hands © Zoë Valls
Cut Hands © Zoë Valls

Cut Hands: Einmal »Boiler Room« und zurück

Der britische Musiker William Bennett wird in diesem Jahr 65. Nach einer turbulenten Karriere mit der Noise-Band Whitehouse entdeckt er in seinen Fünfzigern die Tanzfläche – und die kulturelle Öffentlichkeit entdeckt ihn.

Höflich, kultiviert, beinahe professoral – wenn man William Bennett heute sieht, ahnt man kaum, dass er einst der Kopf einer der berüchtigtsten Noise- und Industrial-Bands der Welt war: Whitehouse, gegründet 1980 und damals mit der neu kreierten Genre-Bezeichnung Power Electronics bedacht. Die Band trägt ihren Namen nicht nach dem US-Regierungssitz, sondern nach der Aktivistin Mary Whitehouse, die sich für die Zensur sexueller Inhalte in den Medien einsetzte – und deren Nachname später selbst zum Titel eines Pornomagazins wurde. Bennett, das einzig konstante Mitglied der Band, liebt solche absurden Kollisionen: Als Einflüsse nennt er zugleich die Schriften des Marquis de Sade und das Yoko-Ono-Album »Fly« (1971). Jahre vor Erfindung der Trigger-Warnung schreiben Whitehouse auf ihre Backcover: »Extreme electronic music – please acquire with caution«. Die Band bewegt sich am äußersten Rand der Post-Punk-Kultur – dort, wo nicht nur musikalische Tabus gebrochen werden. Bis heute führt das zu klaren Positionen: Texte über Bennett neigen entweder zur Skandalisierung oder zur Verteidigung. Selten wird gefragt, wie seine Selbstinszenierung eigentlich funktioniert. Mit Cut Hands, seinem »Afro Noise«-Projekt, findet Bennett in den 2010er-Jahren breiten Zugang zu Tanz-Clubs, Festivals und Kulturinstitutionen. Der frühere Schockmusiker wird zum respektierten Performer, dessen Werk als musikalisch innovativ gilt. Bennetts Weg dorthin führt nicht etwa über einen Bruch mit der Vergangenheit – sondern über ein präzises Rebranding, das sich in mehreren Etappen entfaltet.

Lärm von Individualisten

Das erste große Statement von Whitehouse und damit auch von Bennett ist »Dedicated to Peter Kürten« (1981), später von »The Wire« als das »Never Mind the Bollocks« des Noise bezeichnet (»An Abuser’s Guide to Noise«, Heft 8/2004). Als mir das Album zum ersten Mal begegnet, denke ich in meiner Naivität, Peter Kürten müsse wohl ein vergessener deutscher Avantgarde-Komponist der 1960er-Jahre sein. Weit gefehlt: Kürten war ein Serienmörder im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus. Seine Taten waren grausam, sadistisch und sexuell motiviert. Einer solchen Figur, dem »Vampir von Düsseldorf«, ein Album zu widmen, ist eine kalkulierte Provokation. Whitehouse fallen dabei nicht aus der Rolle: In Interviews erklären die jungen Männer Kürten zur Symbolfigur einer individualistischen Lebenshaltung. Die Musik auf »Dedicated to Peter Kürten« passt zu solchen Posen. Die Stücke bestehen zumeist aus nur wenigen Sound-Elementen – einem hochfrequenten Pfeifton, einem tiefen Brummen und schreienden Vocals. Die Stimme fungiert als expressives Geräusch. Manchmal mischen sich plätschernde Wassergeräusche darunter, die seltsam bedrohlich wirken. Sound wird hier zur Zumutung – reizvoll nur für Eingeweihte: Es entsteht eine Trading-Kultur unter vorrangig männlichen Spezialisten, die heute fast vergessen ist. Bennetts eigenes Label Come Organisation (später: Susan Lawly) versendet den fotokopierten Newsletter »Kata«, mit Pamphleten und Comic-Strips.

Die musikalische Faszination, die Whitehouse auf ihr kleines, aber hingebungsvolles Publikum ausüben, verdichtet sich auf »Great White Death« – der Release beschließt 1985 das erste Kapitel der Band vor einer längeren Pause. Das Album wirkt besonders roh: Die Musik klingt, als sei sie durch Lautsprecher ein weiteres Mal (unsauber) aufgenommen worden – die Technik erzeugt einen dumpfen, schwammigen Sound. Charakteristisch ist auch das eigenartige »Zirpen«, animalisch und maschinell zugleich. Ein anderer Track arbeitet mit einem blubbernden Loop, der an Magengeräusche erinnert, vermutlich ein tiefgepitchter Oszillator – Whitehouse zielen auf den Körper. Das textliche Konzept bezieht sich auf die Autobiografie »Ordeal« der Erotikdarstellerin Linda Lovelace (»Deep Throat«), die von ihrem Partner, dem Produzenten Chuck Traynor, erniedrigt und misshandelt wurde. Die Anlehnung bleibt schwer einzuordnen – entlarvend oder ausbeuterisch? Beide Interpretationen sind möglich. Das Publikum ist jedenfalls nicht zum Mitfühlen eingeladen, sondern zum Ertragen. Im Booklet einer Neuauflage zitiert die Band aus negativer Berichterstattung – als wolle sie schwarz auf weiß belegen, dass ihre Provokationen wirksam sind. Angriffslustig präsentieren sich Whitehouse auch auf der Bühne. Ihre Konzerte nennen sie »Live Actions«, ein Begriff mit kunsthistorischer Schlagseite zum Wiener Aktionismus.

In diesen frühen Jahren seiner Karriere bewegt sich Bennett in einem geselligen Umfeld: Steven Stapleton von Nurse with Wound und David Tibet von Current 93 zählen zu seinen engen Freunden. Für kurze Zeit bildet dieses Trio ein Milieu von Individualisten. Ihre Unterschiede sichern den Zusammenhalt: Tibets religiöser Neofolk, Stapletons dadaistisches Sound-Theater, Bennetts rabiater Nihilismus – niemand bedroht die Autonomie des anderen. Ganz anders verhält es sich mit anderen Protagonisten der frühen Industrial-Szene wie Throbbing Gristle, SPK (»Leichenschrei«) und Cabaret Voltaire. Sie sind Whitehouse ähnlich – in Sound, konfrontativer Haltung und der Neigung zu beunruhigenden Themen. Für Bennett, dessen Image auf Einzigartigkeit beruht, ist das heikel. SPK und Cabaret Voltaire werden von Whitehouse kurzerhand als »Glam Rock« verspottet. Den Einfluss von Throbbing Gristle kann Bennett wiederum nicht leugnen, also grenzt er sich süffisant ab, wenn er Genesis P-Orridge etwa als »Hippie« bezeichnet – in der Welt von Power Electronics ein hartes Urteil. Sogar zu den Freunden Stapleton und Tibet geht Bennett schließlich auf Abstand. In einem öffentlichen Fan-Chat erklärt er Jahre später, Stapleton sei den Verlockungen des Geldes erlegen. Dass Nurse with Wound zur Goldgrube wurde, darf bezweifelt werden. Doch die Bemerkung zeigt ein Muster: Bennetts Beziehungen erschöpfen sich, sobald sie seine Rolle im eigenen Mikrokosmos gefährden. Zurück bleiben kryptische Seitenhiebe als Spuren gebrochener Allianzen.

Die folgenreichste Verbindung in Bennetts Laufbahn ist die mit dem amerikanischen Autor Peter Sotos. Während Whitehouse Gewalt primär als Sound-Erfahrung inszenieren, macht Sotos sie in seinen Texten konkret. Er schreibt obsessiv über Sexualstraftäter und darüber, wie ihre Taten medial verhandelt werden. In einem Interview für Adam Parfreys Sammelband »Apocalypse Culture« (1987) bezeichnet er die NS-Führungsriege als »inspirierend«. Ein geschmackloser Scherz? Möglich, doch der Output von Sotos ist unironisch: Zentral ist nicht der Tabubruch, sondern die Fixierung. Mitte der 1980er wird er wegen Besitzes einschlägiger Materialien strafrechtlich verurteilt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – bleibt er bis 2003 immer wieder Teil von Whitehouse. Auf »Cruise« (2001) steht sein Name sogar an erster Stelle der Credits. Das geschieht nicht, weil Sotos wichtiger wäre als Bennett, sondern weil seine Präsenz programmatisch ist. Steve Albini produziert in diesen Jahren Sotos’ Klangcollagen für die Band, Montagen aus TV-Berichterstattungen über reale Fälle sexualisierter Gewalt. Auf der Bühne tritt Sotos als bedrohlicher Störenfried in Erscheinung – zumeist ohne musikalische Aufgabe. Für Bennett ist dieses Bündnis riskant: Sotos macht das Image der Band authentisch und trägt somit zur Markenbildung bei. Als Garant maximaler Konsequenz gibt er der Band einen konspirativen Touch. Zugleich gefährdet er Bennett als öffentliche Figur. Als dieser zu Beginn der 2000er zu einem distanzierteren Ton findet, endet auch der Kontakt zu Sotos.

Vom Skandal zum Künstler-Image

Kaum verschwindet Peter Sotos als zentrale Figur, wird es mit der Single »Wriggle Like a Fucking Eel« (2002) zunehmend angesagt, sich zu Whitehouse zu bekennen. Der junge Oren Ambarchi – damals vor allem als Musiker aktiv, später auch als Kurator und Labelbetreiber (Black Truffle) prägend – holt Whitehouse für das Festival »What is Music?« nach Australien. Thurston Moore (Sonic Youth) zeigt bei einer Ausstellung alte Videos der Band (übrigens sehr zum Missfallen von Rock-Gegner Bennett) und der Techno-Musiker Surgeon integriert Whitehouse-Tracks in seine DJ-Sets. Mit dem Album »Bird Seed« (2003) wird die Band sogar beim Prix Ars Electronica mit einer lobenden Erwähnung in der Kategorie Digital Musics bedacht – vermutlich nicht ohne Widerstände im Gremium, aber symptomatisch für die beginnende Kanonisierung. 2005 bucht Russell Haswell Whitehouse für das Festival »All Tomorrow’s Parties«. Die Band eröffnet für Aphex Twin vor einem irritierten Publikum. Nach nur fünfzehn Minuten endet die Performance verfrüht: Buhrufe, geworfene Plastikbecher, Verunsicherung. In einem unvorbereiteten Umfeld zünden Whitehouse also noch immer. Das ist willkommen: Die Band streut wiederholt die Erzählung vom »chaotischen« Verlauf des Auftritts. Doch die 2000er markieren zugleich eine Phase der Selbstzähmung, befeuert durch die wachsende Anerkennung von außen.

Ein frühes Whitehouse-Album trägt den Titel »Buchenwald« (1981). Für viele ist das ein Tabubruch – den Bennett später relativiert: »It’s just a name«. Das kommt ausgerechnet von jemandem, der Sprache als strategisches Instrument versteht. Immer offener zeigt Bennett seine Begeisterung für NLP, das Neurolinguistische Programmieren. Heute verbindet man diese Methode mit geglätteter Sprache und Selbstoptimierung. Für Bennett bedeutet sie, Kommunikation als Werkzeug der Macht zu begreifen. Als das Musikmagazin »Dusted« ihn um eine Liste seiner zehn Lieblingsalben bittet, nennt er darin allen Ernstes einen Meditationstonträger von Richard Bandler, einem der Mitbegründer des NLP. Die Lyrics der späten Whitehouse-Alben tragen deutliche Spuren dieser Faszination, voller Fangfragen und Sprachspiele. Bennett kombiniert diese Haltung mit Fundstücken aus Online-Foren – zu Themen wie Trauma, Essstörungen und Körperkontrolle. Gewalt wird bei Whitehouse in dieser Schlussphase primär als Psycho-Technik dargestellt. Zugleich öffnet sich der Sound: Whitehouse klingen digitaler, massiver, fast audiophil produziert – mit dem Mastering wird Denis Blackham beauftragt (u. a. Talk Talk, Yello, Tangerine Dream). Manche Tracks folgen konventionellen Songstrukturen und erstmals kommen Rhythmusinstrumente dazu. Mitunter klingt das, als hätten The Prodigy ihren musikalischen Boss Liam Howlett in Klausur mit Masami Akita (Merzbow) geschickt.

Dieser zunehmend kultivierte Stil bringt Bennett sogar ins öffentlich-rechtliche Fernsehen: Einen Höhepunkt ihres medialen Zuspruchs erreichen Whitehouse, als das Arte-Format »Tracks« der Band im Jahr 2006 eine eigene Episode widmet. Bennett und sein einzig verbliebener Mitstreiter Philip Best treten als eloquente Männer im mittleren Lebensalter auf: vormals Tabubrecher, nun respektable Exzentriker – etwas verschroben, fast onkelhaft. Die Redaktion von »Tracks« entscheidet sich, das Phänomen Whitehouse nicht zu intellektualisieren, sondern es ironisch zu rahmen. Zwischen den üblichen Beiträgen über ungewöhnliche Sportarten und extreme Kunstformen wirken Band und Fans wie harmlose Sonderlinge. Der Auftritt schmeichelt. Zugleich ist er ein Warnsignal: Zum ersten Mal sind Whitehouse davon bedroht, in einer Kultur der permanenten Ironisierung aufzugehen, als ein weiteres »krasses« Phänomen unter vielen. Bennett erkennt offenbar die Gefahr. Kaum etwas ist ihm so wichtig wie die Kontrolle der eigenen Rezeption. Nach der Tour zum Album »Racket« (2007) werden Whitehouse schließlich auf Eis gelegt. Die Band wird damit museumsreif.

Ein Glanzmoment dieser neuen Phase kommt, als sich das zeitgenössische Ensemble Zeitkratzer um Reinhold Friedl der Musik von Whitehouse annimmt. Die Gruppe, bekannt für ihre Neuinterpretationen von Lou Reeds »Metal Machine Music« und den frühen Kraftwerk-Alben, wagt sich an Material, das lang als unvertretbar galt. Nun werden Stücke wie »Incest« oder »Fanatics« auf klassische Instrumente übertragen – als seien sie bereit für den Eintritt in den Kanon der Avantgarde. Während frühere, teils prägende Whitehouse-Mitglieder selbstverständlich fehlen, ist der kunstbeflissene Bennett an den Aufnahmen beteiligt – als ausgewiesenes Mastermind »seiner« Musik, als Vokalist, als Mittler zwischen den Welten: Man darf davon ausgehen, dass er kritisch darüber wacht, dass die Transformation in den orchestralen Klang stimmig bleibt. Das Ensemble findet Struktur in Bennetts musikalischen Formverweigerungen. Die subkulturelle Störung wird damit in den Kammersaal übertragen. Doch nicht immer ist die Begegnung stimmig. Als Cover-Motiv für das Album »Whitehouse Electronics« (2010) wählt das Ensemble ein Rennauto – eine verlegene Symbolik, die die übliche Schärfe von Bennetts Inszenierungen verfehlt. Trotzdem markiert die Episode einen Schnitt: Der Provokateur wird zum Künstler. Die Imagearbeit an der Figur Bennett schreitet voran.

Selbstinszenierungen und Exotik

Zudem entdeckt Bennett ein neues Hobby – oder vielmehr ein neues Medium der Selbstinszenierung: Wie so viele in den 2000ern, wird er Blogger. Einer wachsenden Online-Community präsentiert er Filmrezensionen – mal zu Arthouse-Klassikern, mal zur »Saw«-Reihe, die er mit bemerkenswerter Hingabe kommentiert. Über Musik schreibt er in einem Ton, der zugleich belehrend und begeistert ist – und zum ersten Mal gewinnt man Einblick in seinen überraschend konventionellen, fast feuilletonistischen Geschmack: Kronos Quartet, Leonard Cohen, Fela Kuti, John Dowland, daneben Dr. Dre – und natürlich Italo Disco, Bennetts erklärte Pop-Leidenschaft. Als DJ Benetti veröffentlicht er Mixes, in denen sich eine spürbare Liebe zu dieser Musik zeigt – ein seltener Moment der Offenheit. In der Blog-Rubrik »Uncle William« gibt er sich als Beziehungsexperte und Kummerkastenonkel. All das wirkt zunächst wie ein launiger Zeitvertreib, ist aber weit mehr: Bennett arbeitet an der Neuformatierung seiner Persona. Sie soll offenbar ihre Schärfe behalten, aber zugleich reflektiert und mit Selbstironie auf das eigene Schaffen blicken können. Dieser Spagat erlaubt es ihm, sein musikalisches Erbe zu verwalten und neue kreative Schritte zu setzen – ohne weiterhin mit jeder Faser für das Projekt Whitehouse einzustehen.

Bis dahin ist es zunächst ein weiter Weg. Der Pfad von »Afro Noise« auf die Clubbühnen beginnt mit einem fragwürdigen Projekt, der Compilation »Extreme Music from Africa« (1997) – angeblich eine Sammlung von Aufnahmen aus verschiedenen Ländern des Kontinents. Im Begleittext entwirft Bennett eine koloniale Fantasie in Listenform: Tyrannen, schöne Mädchen, bizarre Rituale, tropische Früchte, Waffen und Söldner, Stammeskriege, ungewöhnliche Krankheiten, Hinrichtungen und exotische Tiere – ein selbstenthüllendes Panorama. Das Cover, gestaltet vom damaligen Whitehouse-Grafiker Trevor Brown, zeigt eine schwer bandagierte Frau. Das ist Bennetts vertraute Bildersprache der Verletzung, nur dass hier die Hautfarbe wechselt. Ob die Musik tatsächlich, wie behauptet, von »special contacts« aus Marokko, Südafrika, Simbabwe und Uganda stammt, ist fraglich: Viele Stücke tragen Bennetts Handschrift, und von den meisten beteiligten Acts hört man nie wieder. »Extreme Music from Africa« ist Bennetts erstes Herantasten an ein neues musikalisches Terrain – allerdings ein Tasten mit dem Holzhammer. Afrika erscheint hier als bloße Projektionsfläche: Power Electronics trifft »Tim und Struppi im Kongo«. Für seine neue Faszination hatte Bennett zu diesem Zeitpunkt noch keine Sprache gefunden, die über sein eingeschworenes Kernpublikum hinaus funktioniert – weder rhetorisch noch musikalisch.

Bevor Cut Hands offiziell ins Leben gerufen wird, tragen bereits die letzten Whitehouse-Releases Spuren afrikanischer »Inspiration« – wobei Bennett weniger mit realen musikalischen Formen arbeitet als mit seiner eigenen Vorstellung davon. Viele der rhythmischen Passagen entstehen wohl auf einer Djembe, die er selbst spielt und anschließend elektronisch bearbeitet, bis daraus ein eigentümlich industrielles Trommeln wird. Bennett liebt musikalische Details und Verschiebungen: Die Ergebnisse wirken teils fragmentarisch, teils polyrhythmisch. Markant sind die ruckartigen Time-Stretch-Artefakte, die er in den Sound einbaut. Das grafisch zurückhaltende Artwork von »Asceticists 2006« verwendet einen Schriftzug in Rot-Gelb-Grün – eine Anspielung auf den panafrikanischen Farbcode? Weit eindeutiger ist das detailreiche Cover, das der schwedische Künstler Stefan Danielsson für das nachfolgende Album »Racket« entwirft: Das dargestellte Elend ist geografisch klar »in Afrika« verortet – versehen mit christlicher Symbolik. Whitehouse rücken sicht- und hörbar in eine exotisierende Richtung. Das Genre-Etikett »Afro Noise«, eine ungenierte Verballhornung von Afrobeat, taucht erstmals prominent in den Promo-Kampagnen dieser Phase auf.

Neuer Beat – neue Strategien?

Heute ist fast vergessen, dass »Afro Noise« zunächst als kollektives Projekt ausgerichtet wird. Bennett, der seine Musik bis dahin unter strenger Abschottung produziert hatte, gibt sich in den 2000ern kurzzeitig als Initiator einer offenen Bewegung. Auf damals angesagten Plattformen wie MySpace und Blogspot (es fehlt eigentlich nur StudiVZ) ruft er dazu auf, eigene musikalische Visionen von »Afro Noise« zu entwickeln, die auf Compilations veröffentlicht werden sollen – ein partizipatives Experiment, das eher nach Kreativ-Workshop als nach subkulturellem Underground klingt. Offenbar beseelt von seiner parallelen Tätigkeit als Coach, deren Spuren im Netz weitgehend getilgt sind, inszeniert er sich als Mentor. Sein Auftreten verändert sich zu dieser Zeit: Er wird ruhiger, ohne an Präsenz zu verlieren, war längst ins gepflegte Edinburgh gezogen. Aus dem Schreihals im Ledermantel, der einst klang wie Rob Halford (Judas Priest) mit Halsentzündung, wird ein distinguiert auftretender Mann mit aufrechter Haltung und disziplinierter Körperspannung. Manche vergleichen ihn mit einem Professor der Geisteswissenschaften – und das passt: Auch eine Professur ist schließlich eine Bühne der Autorität. Nur ist hier die Stimme nicht mehr durch Lautstärke wirksam, sondern durch Deutungshoheit.

Mehrere Jahre verstreichen, in denen Bennett die Veröffentlichung des ersten Cut-Hands-Albums immer wieder verschiebt. Ohne großes Aufsehen verschwindet in dieser Zeit die Idee von »Afro Noise« als Gemeinschaftsprojekt – Stichwort Deutungshoheit: Das neue »Afro«-Genre gehört am Ende doch wieder allein seinem weißen Urheber. Noise war bei Bennett nie anarchisch, sondern stets hierarchisch angelegt – insofern bleibt er sich treu. Erstmals tritt an Bennetts Seite seine zeitweilige Partnerin Mimsy DeBlois in Erscheinung. Sie gestaltet die Artworks der kommenden Cut-Hands-Releases, grafische Anlehnungen an Symbolformen aus der haitianischen Vaudou-Tradition. Diese Bildsprache ist kein post- oder dekolonialer Gegenentwurf zu den früheren Arbeiten von Brown und Danielsson – dafür bleibt sie zu sehr den exotischen Codes verbunden. Doch sie ist schematischer, distanzierter und damit strategisch klüger. Bennett hatte dazugelernt: Wenn Cut Hands als Neuanfang funktionieren soll, muss der gewohnte Skandalismus abgestreift werden. Das zeigt sich auch in der Musik. Als das erste, selbstbetitelte Album 2011 erscheint, herrscht Erstaunen: Wo sind die brutalen Klangflächen geblieben? Stattdessen dominieren skelettartige, verschachtelte Beats, wuchtig und präzise in Szene gesetzt. In manchen Passagen klingt das wie eine reduzierte, düstere Version der Musik aus »Der König der Löwen«, wie »The Wire« treffsicher bemerkt. Aus dieser neuen Qualität schlägt Bennett in den folgenden Jahren Kapital – als gefragter Performer und Soundtrack-Lieferant sowie als Manager seiner eigenen Vergangenheit.

Endlich ist es so weit: »DJ Cut Hands«, wie er sich zunächst nennt, erklimmt fortan die kleinen, aber symbolträchtigen Bühnen von »Resident Advisor« und »Boiler Room«. Seine Erfahrung als Italo-Disco-DJ zahlt sich aus: Die Sets sind dynamisch, präzise gebaut und nur selten bloße Wiederholungen der bekannten Album-Tracks. Ein tanzender, konzentrierter Mann in den besten Jahren – Bennetts Auftritt wird zum Sinnbild einer geglückten Neuerfindung. Auch die Kritik reagiert mit spürbarem Interesse. Selbst bei »Pitchfork« wird Cut Hands wohlwollend besprochen. Dort beschreibt man Bennetts neuen Modus mit feiner Skepsis als »userfreundlich« – ein Wort, das sein Rebranding kaum besser treffen könnte. »Vice« verwendet Musik von Cut Hands als Soundtrack für Dokus (»Kings of Cannabis«, »Inside Syria«) – besonders wohlgesonnen zeigt sich der Redakteur und Produzent Andy Capper, mit dem Bennett 2011 beim Festival »Supersonic« in Birmingham ein Podium teilt. In diesem Umfeld trifft Bennett auf Bestätigung und beantwortet Fragen aus dem Publikum mit entwaffnender Selbstironie. Die unausgesprochene Botschaft lautet: »Ich bin kein extremer Typ, aber ich mache extreme Kunst – ist das nicht interessant?«

Das Erbe wird gemastert

Eine Band wie Whitehouse kann man nicht »canceln« – sie war von Anfang an als geächtetes Projekt konzipiert. Lange bevor der Begriff seine heutige Bedeutung erhielt, war der Status »gecancelt« daher Bennetts großes Kapital. Cut Hands funktioniert jedoch nach anderen Regeln: Das Projekt war auf Anschluss ausgerichtet, wollte verstanden, gehört und nicht zuletzt gebucht werden – und wurde dadurch angreifbarer. Vorwürfen aller Art war Bennett in der Vergangenheit defensiv, aber geübt begegnet: mit rhetorischer Wendigkeit und einem charmanten Schuss NLP – gerade genug, um mit analytischer Distanz aus dem eigenen Material herauszutreten. Doch das gesellschaftliche Klima verändert sich, mit neuen Sensibilitäten für Macht, Repräsentation und Aneignung. Bennetts gewohnte Distanz verliert an Überzeugungskraft. Das zeigt sich, als ein vielgeteilter Essay das Schaffen von Cut Hands kulturkritisch einordnet und politisiert. Um die Reputation seiner Persona zu retten, wagt Bennett in diesen Jahren etwas, das er in Werk und Auftritt bislang systematisch verweigert hatte: Klarheit. Er veröffentlicht ein »Personal Statement«, das ohne kryptische Rhetorik auskommt. Zusammengefasst heißt es dort: Als Mensch lehne er Gewalt und Ungerechtigkeit ab. Damit fällt Bennett erstmals aus der Rolle.

Kurzzeitig trägt seine Stellungnahme. Bennetts kenntnisreiche Reflexionen in Interviews halten das Bild aufrecht. Doch auf Dauer reicht das nicht. Cut Hands wird nicht öffentlich demontiert, aber das Projekt wird durch den Zeitgeist zunehmend randständig. Verwandte Acts wie Rainforest Spiritual Enslavement von Dominick Fernow (Prurient, Vatican Shadow) verlieren Rückhalt und Publikum. »Vice« steckt in finanziellen Schwierigkeiten und der »Boiler Room« bucht andere Acts. Das vorerst letzte Cut-Hands-Album, »Sixteen Ways Out« (2021), vermeidet als Dokument einer Sound-Ausstellung im Londoner Tate Britain jeden Bezug zum afrikanischen Kulturraum – und kaum jemand nimmt es zur Kenntnis. Danach folgen weitere, meist vereinzelte Gigs, immer wieder auch in Österreich, aber kein neues Material. Wiederholt gibt es Auftritte von Cut Hands auf dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, zuletzt 2025. Das Festival, im Städtetourismus für seine ausgefallenen Kostüme bekannt, bietet Bennett ein Refugium: Außenseitertum ist hier eine Tugend, kein Verdachtsmoment – die Gothic-Szene schätzt das Unverstandene und das Eigenbrötlerische. Das ist der ideale Raum, um weiterhin betont individuell aufzutreten, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Bleibt die Frage: Zieht sich Bennett damit allmählich ins Private zurück – oder warten weitere Projekte? In jedem Fall wird von ihm zu hören sein. Das Vermächtnis von Whitehouse wird inzwischen als »legacy act« vermarktet: Reissues in zeitgemäßen Formaten (auffällig: kein Streaming) und T-Shirts als limitierte Sammlerware. Diese trägt öffentlich etwa Steven Wilson (Porcupine Tree) – ein Botschafter der Hi-Fi-Kultur, der sonst King Crimson und Jethro Tull in 5.1 abmischt. »Great White Death« in Dolby Atmos? Undenkbar ist das nicht. Als aktiver Musiker mag Bennett inzwischen kürzertreten, doch sein Werk bleibt verwertbar – und damit lebendig. Diese Verwertbarkeit speist sich aus demselben Mainstreaming, das True Crime durch Plattformen wie Netflix erfahren hat. Die Provokation von »Dedicated to Peter Kürten« besitzt heute vorrangig anekdotischen Wert: Wir »widmen« unsere Freizeit längst denselben historischen Gewalttätern – die einen in 4K, die anderen auf edlem Vinyl. Daher ist mit weiteren Neuauflagen aus dem spröden Frühwerk von Whitehouse zu rechnen – nun gerahmt als subkulturelle Geschichtsschreibung. Möglich wurde das erst durch Bennetts Rebranding: durch Cut Hands, durch den »Boiler Room«, durch Zeitkratzer, durch das Bloggen, durch die Trennung von Peter Sotos, durch Arte »Tracks« und durch die Haltung des Intellektuellen. Am Ende zeigt die Figur Bennett, wie Provokationen zu Routinen werden – und damit marktförmig.

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Text
Kai Ginkel

Veröffentlichung
25.11.2025

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