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Umerziehung im Kiefernwald

Die kanadische Serienproduktion »Wayward« von Mae Martin scheut sich nicht, transgenerationale Traumata aufzuzeigen, und bietet einen gelungenen Beitrag zur »Troubled Teen Industry« im Thriller-Format.

»Wayward« ist zunächst ein interessantes Wort. Es bedeutet »unberechenbar, eigensinnig, missraten«. Solche Zuschreibungen erleben leider besonders Jugendliche noch immer, sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld. Ähnlich einem unbequemen Schuh, der drückt und auf den man durchaus auch genervt reagieren darf. Die Netflix-Serie »Wayward«, kreiert von Mae Martin, zeigt ganz eindrücklich Traumakonstruktionen, Traumazustände und die problematischen Übergriffe im Korrekturprozess von vermeintlichem Fehlverhalten in fragwürdigen Besserungsanstalten. Das alles mit referenzieller Begleitung von Folk-Songs wie »In the Pines« (besser bekannt unter dem Titel »Where Did You Sleep Last Night?«, etwa in der Interpretation von Nirvana) und einer Bildsprache, der »Twin Peaks« freundlich aus der Ferne zuzwinkert. 

Little girl, little girl, where’d you stay last night?

Erwachsene beklagen oft, sie seien ständig nur am Geben. Klar, man steht als erwachsener Mensch in einer gewissen Verantwortung, unter einem gewissen Druck, und muss unterm Strich letztlich einfach funktionieren. Man ist viel für andere da, widmet einen Großteil seiner Lebenszeit der Arbeitsleistung und die letzte Energie den Kindern. Dass dabei das eine oder andere schädliche Muster oder transgenerationale Trauma mit an Bord rutschen kann, ist nach wie vor gängige Praxis. Das wissen in der Serie »Wayward« auch die Einwohner*innen des verschlafenen Hippie-Nests Tall Pines im US-Bundesstaat Vermont. Um Kindheitstraumata nicht weiterzugeben, gibt’s hier zunächst einmal gar keine Kinder. Dafür eine Academy, die den Unbequemen zu »helfen« versucht.

Mae Martin spielt in der achtteiligen Serie selbst die Hauptrolle: Police Officer Alex Dempsey steht gerade an der Schwelle zu einem neuen Leben. Ein Umzug aufs Land steht an, gemeinsam mit Hund und schwangerer Partnerin Laura, die ursprünglich eben aus Tall Pines stammt. In der scheinbar idyllischen Kleinstadt entfalten sich nach und nach überraschende Verbindungen. Allesamt verwoben mit der Tall Pines Academy, einer Einrichtung für »schwierige« Jugendliche, hinter der sich mehr verbirgt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. So gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl verschwundener Jugendlicher, angeblich, weil sie – ohnehin in Schwierigkeiten – davonliefen und auf sich gestellt keine vernünftige Lebensgestaltung hinbekamen. Status: Unbekannt. Alex will es genau wissen und lehnt sich dabei weit aus dem Fenster. 

Mit durchkomponierter Bildsprache werden die psychologischen Abgründe dabei gekonnt illustriert. Symbole (Türen als Möglichkeitsöffner, Kröten als Transformationsbringer) findet man dezent, aber kontinuierlich als Stilmittel eingesetzt. Nicht zuletzt trägt der Soundtrack einiges dazu bei, Atmosphäre zu konstruieren: Als Zuseher*in fühlt man sich manchmal wohl und im Flow – nur um im nächsten Moment im Grauen aufzuwachen. Obwohl die Sonne durch die Kiefernwälder blinzelt und alles nach einem Tag aussieht, der eigentlich Gutes verspricht, wird man abrupt daran erinnert, dass einem der bloße Anschein gar nichts schuldig ist und Teenagerblut sich langsam dem Wasser beimischt …

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In the pines, in the pines, where the sun never shines

Die Schattenseiten der »Troubled Teen Industry« wurden immer wieder in US-Filmen und -Serien thematisiert. Seit Paris Hilton öffentlich über ihre eigenen Erfahrungen sprach und allerspätestens seit der Serie »Teen Torture, Inc.« (HBO Max, 2024) sind die Methoden solcher Umerziehungsanstalten noch stärker in ein öffentliches Bewusstsein gerückt. Das Schema ist immer das gleiche: Probleme mit den Eltern, als aufmüpfig empfundenes Verhalten, Problemkind-Stilisierung, gewaltsame Entfernung von zuhause, gefolgt von Läuterung, Einschüchterung oder Brechen des Willens durch zweifelhafte Methoden, die teilweise an Gesundheitsgefährdung grenzen, Bevormundung und Demütigung von Machtüberlegenen wie Erziehungsberechtigten, Behörden oder Lehrpersonen. Das kennen aber wohl alle, die einmal jugendlich waren.

Die Storyline von »Wayward« greift auch auf persönliche Erfahrungen Martins zurück. Nach eigenen Angaben habe eine enge Freundin als Teenager selbst so einen Aufenthalt durchlebt. In Tall Pines sind es Leila (Alyvia Alyn Lind) und Abbie (Sydney Topliffe), die eine tiefe Freundschaft verbindet. Im Angesicht von Gefahr und Verrat wird diese jedoch auf die Probe gestellt. Evelyn Wade, gespielt von Toni Colette, will den Jugendlichen in ihrer Academy helfen. Sie präsentiert sich als empathische Leiterin, ihre zutiefst autoritären Ansprüche schwingen aber von Anfang an mit. So leben die Eingewiesenen unter strengen Regeln und durchgehender Überwachung, sowohl im Alltagsleben als auch in der Therapie. Die Einrichtung wirkt fast wie ein kontrollierender Kult.

In sogenannten »Leaps« wird versucht, die Jugendlichen zu de-traumatisieren, indem sie sich von einer Mutterfigur lösen sollen. Eröffnet vom Läuten einer Glocke wird das Mantra heruntergebetet: »You’re lying on your back, crying out for your mother. She is standing facing the wall. She has her back to you. A bell rings. Your mother turns to face you. She is silent, but her mouth is open wide. In her mouth is a door.« Nach der zigsten Wiederholung geht das auch ans eigene Nervenkostüm. Was wie die Konditionierung des Pawlowschen Hundes wirkt, soll dies wohl auch sein. Man ortet Brainwash. Obwohl diese Sitzungen Befreiung versprechen, wird den Betroffenen, allesamt in einer vulnerablen Situation, auch eine Abhängigkeit von Bezugspersonen antrainiert. Denn, und das ist nicht neu: Helfen kann auch ein starkes Machtgefüge herstellen. 

My love, my love, what have I done to make you treat me so?

Je nach Perspektive kehren sich Täter*innen und Opfer auch schnell einmal um. Typisch Traumareaktion, wissen Betroffene oft nicht, wem man vertrauen kann und wem nicht. Oder, wie es in einer Version des Songs »In the Pines« heißt: »My love, my love what have I done to make you treat me so?« Die Frage nach dem Warum ist in Traumagehirnen fest verankert. Musikerin Joan Baez lässt es in ihrer Version »Black Girl« schon etwas anklingen, Countrysängerin Loretta Lynn nimmt in ihrer Interpretation die Verantwortung bereits auf sich und stellt ihr eigenes Verhalten in Frage. Stockholm lässt grüßen. Ein weiteres Problem in helfenden Bereichen: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Ab hier wird es gefährlich. Das Problematische am empathischen Blick auf die Täterabsicht ist eine eventuell daraus resultierende Legitimierung von Gewalt und Missbrauch. Das geht ganz leicht mit Schuld – weil sie in Opfern meist so installiert wurde. Die wilde Komplexität von Verwundung und Bewältigungsversuchen zeigt sich in »Wayward« in der Palette an individuellem Charakteraufbau. So gelingt es Mae Martin, Hauptprotagonist Alex Dempsey als eine Person darzustellen, die zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Misstrauen gegenüber den Geheimnissen der Stadt hin- und hergerissen ist und sich nicht sicher ist, ob sie ihren eigenen Entscheidungen vertrauen kann. 

Auch mit Macht wird gespielt: mal aufgebaut, mal aufgelöst und ein anderes Mal einer ganz anderen Person neu in die Hände gelegt. Unweigerlich wird man damit konfrontiert, was Trauma ist, sein kann. Fast verhält es sich so wie mit der Schwerkraft: Man kann sich nicht entziehen. Was auf der Welt passiert (oder passiert ist), hinterlässt Spuren, bis ins Privateste hinein. Die Reaktion darauf ist manchmal nichts anderes als Überlebensinstinkt. Im besten Fall wird die Konfrontation gewagt. Das bedeutet auch, die einst erlebte Ohnmacht in Handlungsmacht zu verwandeln – ein Schritt, der schmerzhaft bis brutal sein kann. Manche schlagen auch einfach die Tür zu. Aus Angst. Weil sie nicht anders können. Weil ein anderes Machtumfeld Sicherheit verspricht. Oder weil echte Überwindung auch immer eine gewisse Stabilität braucht. Und so wird klar, wie viele im Survival Mode sind und wer in die Verantwortung geht, gehen kann. Auch wenn das bedeutet, dass man erst einmal ganz allein auf eine dunkle Straße und in eine ungewisse Zukunft blickt.

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You caused me to weep, you caused me to mourn

Von der journalistischen Filmkritik teils gut aufgenommen, stößt man auf diversen Internet-Plattformen eher auf schlechte Bewertungen von »Wayward«. Bemängelt wird vor allem, dass bestimmte Probleme und Hintergründe der einzelnen Figuren nicht nachvollziehbar transportiert oder aufbereitet wurden. Aber: Muss denn immer alles von vorne bis hinten erklärt werden? Obwohl man vielleicht vorschnell vermuten mag, dass das Publikum bei Netflix eher auf oberflächliches Chillen eingestellt ist, war ja im Programm immer auch ein bisschen Arthouse mit dabei.

Netflix und andere Streaming-Anbieter produzierten in den letzten Jahren tatsächlich viele Trauma-bezogene Inhalte oder stellten Zusammenhänge her. Um nur einige zu nennen: »Baby Reindeer« (hier geht um problematische Geschlechterrollen, Missbrauch und Stalking), »Adolescence« (Kinder töten Kinder, die Unmöglichkeit einer Verarbeitung), »Untamed« (Drogen, Verlust und Tod im Nationalpark) oder die »Monster«-Kollektion, die neben illustrer Sensationalisierung spektakulärer Mordfälle (Jeffrey Dahmer, Menendez-Brüder oder Ed Gein) die Frage nach den Tätermotiven stärker aufgreift. Kompetenzen wie eigenständiges Denken, eine gewisse Interpretationsfähigkeit und ein wenig Einfühlungsvermögen darf man schon auch in Mainstream-Betrachtungsweisen verortet sehen.

Zudem ist Trauma längst in der Pop-Psychologie ein Thema, sofern man der Fülle an Social-Media-Content dazu Glauben schenken möchte. Latest shit: CPTSD – eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. So etwas kann – bei aller Liebe zum Reflexionsanspruch – nicht nur über den Verstand, Worte, Logik gelöst werden, sondern muss auch aus dem Körper raus. Die Frage ist nur: wohin? Man kann sich nach dieser beklemmenden Thriller-Serie auch fragen: Pinkelt die Traumaresponse aus dem Screen heraus den Zuseher*innen frech ans Beinchen? Ist das so gewollt? Weil gesellschaftliche Konstruktionen rund um den Globus ja zeigen, dass es traumatisch weitergeht, oder ganz einfach weitergehen muss? Vielleicht. Möglicherweise ist es aber auch nur Projektion. With the lights out, it’s less dangerous.

Link: https://www.netflix.com/at/title/81236299 

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