Fatoumata Diawara © Jelmer de Haas Fotografie
Fatoumata Diawara © Jelmer de Haas Fotografie

Grenzenverschiebende Musik beim Le Guess Who? 2019

Das viertägige »Le Guess Who?« im Herzen der Niederlande ist wohl eines der abenteuerlichsten Musikfestivals, die es sich zu besuchen lohnt. Ein Rückblick.

Das, was wir gemeinhin unseren »Horizont« nennen, die äußere Grenze dessen, was unseren bisherigen Erfahrungsschatz mit einschließt, bestimmt auch in hohem Maße, welche Musik wir hören. Wer daran interessiert ist, sich neuen Erfahrungen auszusetzen, um diesen Schatz zu vergrößern, tritt Mitte November den Weg ins Herz Hollands an. Das hübsche, mittelalterliche Städtchen Utrecht, oft auch das »kleinere, schönere, weniger überlaufene Amsterdam« genannt, wird dann zum Epizentrum eines der spannendsten Musikfestivals Europas. Seit nunmehr zwölf Jahren steht das Le Guess Who? für exquisite Line-ups, hervorragende Soundqualität, umsichtige Integration ins lokale Stadtleben und unvergessliche Erlebnisse abseits des Mainstreams in nicht nur musikalischer Hinsicht. Die Ausgabe 2019 traute sich sogar noch mehr als vorhergehende in Nischen hörens- und erlebenswerter Kunst aus aller Welt vor. Die folgende Chronologie gibt einen kleinen Ausschnitt aus einem riesigen Programm wieder, das sich über vier Tage erstreckte.

Donnerstag, 7. November 2019
Donnerstag, Domplatz zu Utrecht, früher Abend. Die ausgebuchte Innenstadt hat soeben in ihren Hotels, Hostels und Airbnbs eine Horde Musikfans aus aller Welt aufgenommen, da macht es sich die kanadische Pianistin Vicky Chow in einem Glascontainer vor ihrem präparierten Piano gemütlich, das mit einem Set an Farbscheinwerfen verbunden ist. Jede Taste bzw. Kombination davon ist augenscheinlich kodiert für einen bestimmten Lichteffekt, mit dem Chow den kolossalen Turm des Utrechter Doms »bespielt«. Das anwesende Publikum genießt die audio-visuelle Kollaboration zwischen Musikerin und sakralem Bauwerk als bezaubernden Einstieg in vier besondere Tage. Die Installation bleibt für den restlichen Abend für die Öffentlichkeit bespielbar. Direkt im Anschluss beginnt für Le-Guess-Who?-Besucher*innen wie jeden Abend das unvermeidbare Martyrium, sich aus dem üppigen Programm einige Rosinen herauszupicken, denn die Shows laufen in den verschiedenen Locations parallel oder überschneiden sich. Der Weg des Autors führt zuerst ins städtische Musikzentrum TivoliVredenburg, dann in einen kleinen Club an den Grachten.

Der Avantgarde-Veteran Caspar Brötzmann, seines Zeichens Sohn der Free-Jazz-Ikone Peter Brötzmann, spielt mit seiner Combo Caspar Brötzmann Massaker eine Mélange aus Prog und Noise, die dafür sorgt, dass gleich die ersten Stunden des Le Guess Who? 2019 einige Toupets wegbläst. Brötzmanns gequälte Gitarre, der streckenweise wahrlich perverse Töne entlockt werden, kann einem dabei ein bisschen leidtun. In seelenverwandtem Terrain bewegt sich die multiinstrumentale Songwriterin Eiko Ishibashi, auch wenn sie dabei völlig andere Töne anschlägt. Ihre Experimentierfreudigkeit betrifft mehr den Pop. Begleitet von jazzigem Bass und Schlagzeug entfaltet die Japanerin am Keyboard ihre elegischen Balladen. Wer erneut den Kontrast sucht, geht anschließend zu Godflesh. Die für ihr Genre wegweisende Industrial-Metal-Band um Napalm-Death-Gründer Justin K. Broadrick lässt mit einem perfekt austarierten Gitarrensound und brutaler Drum Machine den Saal erbeben. Wunderschön, wie diverse anwesende Generationen dabei mitgehen. Eine ganze Handvoll hemmungslos headbangender Männer und Frauen über 50 wird gesichtet.

Viele Godflesh-Fans schaffen es anschließend zum sehr gut besuchten Gig von Earth, einem der wenigen richtigen Headliner des Festivals. Das Set bildet einen Großteil ihres neuen Werkes »Full Upon Her Burning Lips« ab. So wie das Album ist die Show eine solide Stoner-Meditation, der jedoch ein wenig der Pfeffer und die Abwechslung fehlt. Spätnachts spielt Vicky Chow noch ein reguläres Set und zum ersten Mal zieht afrikanische Würze in Form der sagenumwobenen Dur-Dur Band aus Somalia ein. Die Geschichte der Gruppe, die in den 1980ern die Speerspitze einer bunten Szene in Mogadischu war, ist einen eigenen Artikel wert, die Show ein funkiges Fest. Wer mag, gibt sich mit ZONAL als Betthupferl ein dunkles Ritual aus Trip-Hop, Industrial und politisch aufgeladener Poesie.

ZONAL © Jelmer de Haas Fotografie

In vielerlei Hinsicht ist das Le Guess Who? ein Fest der Begegnung. Zwischen dem Publikum und unbekannten Künstler*innen, dem Festival und der Stadt und auch zwischen verschiedenen Kulturen. Lombok ist ein Utrechter Stadtteil mit einem besonders hohen Anteil türkischer und arabischer Zuwanderer*innen und der nachfolgenden Generationen derselben. Marokkanische Bäckereien reihen sich an Kebab-Buden und typische Marktstände. Seit neuestem ist das Lombok-Festival ein weiteres Spin-off des Le Guess Who?, das vor allem aus Tanz- und Straßenveranstaltungen besteht. Begegnungen mit den Künstler*innen sind im offiziellen »Festival-Hangout« möglich. Wie der Name schon sagt, gibt es dort die Möglichkeit, nachmittags die Seele baumeln zu lassen, Live-Interviews mit Künstler*innen zu lauschen und DIY-Prints auf T-Shirts anzufertigen. Potenzial für Begegnungen der unerwarteten Art bietet das Festival sowieso immer. Am Freitag etwa tauchte ein isländischer Superstar in Utrecht auf …

Freitag, 8. November 2019
Ausflüge in extensive Postrock-Passagen mit orientalischem Anklang bringen Oiseaux-Tempête. Das französische Kollektiv hat starke Verbindungen zur Montréaler Szene rund um Constellation Records; Jessica Moss von Godspeed You! Black Emperor und Radwan Moumneh gehören zur Live-Band. Die charmanten Riot-Girls von The Raincoats waren in den 1980ern eine Institution des englischen Post-Punk, in Utrecht spielen sie ihr Debütalbum von 1979 in voller Länge. Ein Debüt stellt auch der Auftritt von Ayalew Mesfin, der zum ersten Mal in Europa spielt, mit der Debo Band dar. Auch Mesfins Biografie ist bemerkenswert und reicht von hoher Popularität im diktatorischen Äthiopien der 1970er bis zu Gefängnis und Verbot seiner Musik. Die äthiopische Legende diente in den kommenden Jahrzehnten zwar als Inspiration für andere große Künstler*innen, darunter Madlib, geriet jedoch größtenteils in Vergessenheit. Mesfins grooviger Funk bekommt durch das Le Guess Who? nun eine internationale Bühne.

Ayalew Mesfin & Debo Band © Tim van Veen

Wer den bemerkenswerten Auftritt bis zum Ende erlebt, kommt dafür zu spät für eine gute Sicht auf Idris Ackamoor & The Pyramids. Über die Köpfe eines gesteckt vollen Saales hinweg sieht man noch die Pharaonenkrone des Jazz-Saxofonisten, der hörbar Inspiration aus dem Universum Sun Ras und Pharoah Sanders’ bezieht. Nach all diesen lebensbejahenden Performances kann einem schon mal der Sinn nach etwas Dekonstruktivismus stehen. Die ausschweifende, aber tanzbare Noise-Rock-Agitation von Girls Band, begleitet von manischem Gesang, kommt da gerade recht. Endgültig in andere Sphären befördern einen Lightning Bolt. Die Wirkung des gerade als Live-Band berüchtigten Duos mag auf Studioalben ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen, von Euphorie bis Migräne oder beides. Beim Le Guess Who? ist es ganz schwer, dem Sog der Noiserocker zu widerstehen und nicht bis drei Uhr morgens zu bleiben, bis der Saal in Schutt und Asche liegt. Was an vielen an diesem vollgepackten Tag vorüberging: Niemand Geringeres als Björk überrascht spätabends mit einem DJ-Set, dabei ungewöhnlich eingehüllt von der Festival-Kuratorin und Modedesignerin Iris van Herpen.

Eine besondere Stärke des Festivals ist auch seine Beziehung zur Stadt. Das, was insgesamt etwa 250 Gigs, Ausstellungen und Shows sind, findet nicht nur im kolossalen TivoliVredenburg statt – ein bemerkenswerter Bau mit fünf verschiedenen Sälen, die jeweils akustisch für bestimmte Genres optimiert sind – sondern in ganz Utrecht. Die pittoreske, bepflastersteinte Student*innenstadt ist die eigentliche Gastgeberin der Party. Integriert im Festivalprogramm und somit Schauplatz für Konzerte und Ausstellungen sind drei Kirchen, ein Theater, ein Aufnahmestudio, das Centraal Museum, diverse Clubs und kleine Bars, die größtenteils in der Innenstadt verteilt sind. Im Rahmen des Le Mini Who?, eines Festival-Spin-offs am Sonntag, spielen lokale Newcomer-Bands in Plattenläden, Cafés und Ähnlichem.

Dem*der ambitionierten Besucher*in, der*die sich möglichst wenig entgehen lassen will, ist daher die Miete eines Fahrrads angeraten. Mit der zu Stoßzeiten beeindruckenden Masse an Drahteseln der Einheimischen verschmelzend, bleibt die Stadt dauerhaft im Zentrum des Erlebens. Mit dabei ist das wohltuende Gefühl, nicht unmittelbar als Tourist aufzufallen, und der Vorteil, in der Nahrungskette des Utrechter Verkehrs aufzusteigen (es sind wirklich viele Fahrräder). Dennoch bedingt das dichte Programm auch das Schicksal des Le-Guess-Who?-Fans, nämlich, dass er*sie unweigerlich potenziell Großartiges verpasst. Jede Location hat ihre Kapazitätsgrenzen und manchmal gibt es Terminkollisionen, die bestimmt gegen die UN-Menschenrechtscharta verstoßen (2015 musste sich der Autor dieser Zeilen zwischen Sunn O))) und Kamasi Washington entscheiden). Die Chancen stehen hoch, dass der*die Zimmerkolleg*in im Hostel ein ganz anderes Programm erlebt hat als man selbst. Das Festival ist eine Goldmine, die man in vier Tagen nie ganz ausschürfen kann.

Sudan Archives © Jorah Sarah Photography

Samstag, 9. November 2019
Björk ist immer noch da und wird mitten im Publikum gesichtet, bei der Show von Sudan Archives. Die experimentierfreudige Violinistin, mit einem exzellenten Debütalbum im Gepäck, beeindruckt mit ihrem modernen Cross-Over aus R&B, Pop und Electronic – extravagantes Outfit inklusive. Die Pianistin Olga Pashachenko wagt sich an die Live-Vertonung eines Stummfilm-Klassikers: »Der Golem« (1920) wird dabei natürlich an die Leinwand des Saals projiziert. Da die Bestuhlung mindestens so bequem ist wie im Kino, ist der Auftritt nicht nur ein besonderes Filmerlebnis, sondern auch eine angenehme Gelegenheit zur Erholung an einem hyperaktiven Wochenende. Brian Chippendale von Lightning Bolt & Greg Fox, seines Zeichens Drummer von Liturgy und während des ganzen Wochenendes involviert in diverse kleine Gigs, tun sich spät nachts zusammen, um an den Drums die Muskeln spielen zu lassen. Es spricht für das Publikum, wie enthusiastisch es eine reine Schlagzeug-Show um zwei Uhr früh aufnimmt. Ebenfalls äußerst arriviert an der Perkussion ist Jim White, der seit 2013 mit dem griechischen Lautenspieler Giorgos Xylouris das erstaunliche Duo Xylouris White bildet. Ihre Fusion aus Jazz und griechischem Folk trägt ein modernes, post-rockiges Gewand, das wohl viele Metaller und Progger einsehen lässt, dass sie Balkan-Tanzmusik lieben können. Unglaublich, wie flink und fetzig eine Laute gespielt werden kann.

Die Interaktion mit anderen Formen der Kunst wird am Le Guess Who? alles andere als gescheut. Das Centraal Museum Utrecht, welches ein breites Spektrum von Alten Meistern, zeitgenössischer Kunst und Heimatbezogenem abdeckt, ist seit vielen Jahren fixer Bestandteil des Festivals, für Le-Guess-Who?-Besucher*innen ist der Eintritt frei. Diverse Galerien und Hallen der Innenstadt sind Schauplatz moderner Installationen. Absolut empfehlenswert ist ein Besuch im Kino Springhaver. Von Freitag bis Sonntag Schauplatz eines eigenen kleinen Filmfestivals, kommen Besucher*innen mit dem Le-Guess-Who?-Bändchen in den Genuss absolut sehenswerter Spielfilme und Dokus. Im ghanaische Streifen »The Burial of Kojo« schickt eine Vision die kleine Esi auf die Suche nach ihrem Vater, der beim Goldschürfen verschwunden ist. Fans des amerikanischen Songwriters Daniel Johnston sei zudem die sehr persönliche, berührende Doku »The Devil and Daniel Johnston» ans Herz gelegt. Dies ist eine Untertreibung, denn eine so schöne Aufarbeitung einer Musiker*innen-Biografie findet man nicht wie Sand am Meer (oder wie Fahrräder in Utrecht).

Sonntag, 10. November 2019
Der Sonntag lässt es in den üblichen Locations traditionell etwas ruhiger zugehen, dafür mischt am Nachmittag das schon angesprochene Le Mini Who? diverse Cafés, Höfe und andere Schauplätze auf. Abends stopft sich dann alles ins TivoliVredenburg, um die letzten Acts einer bemerkenswerten Le-Guess-Who?-Ausgabe zu erleben. Die Ambient-Musikerin Liz Harris, bekannt als Grouper, ist derzeit unter dem Namen Nivhek aktiv. Verträumt, erhaben, ein zärtliches Dahinschweben. Grouper, wie man sie liebt und kennt. Ein viel kleineres Kaliber bezüglich Bekanntheitsgrad, aber nicht minder bemerkenswert sind DNA? AND?. Das Osloer Projekt ist ein inklusives Kollektiv erwachsener Musiker*innen und musikalisch begabter Kinder mit Beeinträchtigung, die spannende Impro-Sessions in Rock-Besetzung spielen. Mit The Ex tritt ein typisches Beispiel einer Band auf, für die man dem Festival ewig dankbar ist, sie kennengelernt zu haben. Hierzulande oft Gast bei Free Improv Festivals wie Wels Unlimited, sind sie in den Niederlanden alte Hasen des Underground und spielen eine geniale Mischung aus Punk und Free Jazz. Fans von The Pop Group und Wire, Obacht!

Frankophonen HipHop aus Mali mit Sensibilität für politische und gesellschaftliche Gegebenheiten im Heimatland gibt es mit Master Soumy. Die letzte Show in der fantastischen Akustik des Großen Saals wird mit Fatoumata Diawara zu einer euphorischen Abrissparty. Die Sängerin aus Mali spielt mit ihrer Band traditionellen westafrikanischen Wassoulou-Folk und weiß, wie man ein Publikum anheizt. Zunächst noch in einen gelben Turban gehüllt, wirbeln ihre Dreadlocks wenig später spektakulär über die Bühne. Ein letztes Highlight bildet Asha Puthli, welche ein weiteres Beispiel für eine Le-Guess-Who?-Künstlerin mit unglaublicher Biografie ist. Mittlerweile 74 Jahre alt, ging die Karriere der Inderin so viele Wege, dass sie heute eine Ikone auf mehreren Ebenen ist. Songs wie »Space Talk«, »Right Down Here« und »Say Yes« kennt wohl jeder. Außerdem zierte ihre Stimme das Ornette-Coleman-Meisterwerk »Science Fiction«, später wurde sie von einer Reihe HipHop-Produzent*innen fürs Sampeln entdeckt. Mehr internationale, kulturübergreifende Strahlkraft geht nicht.

Asha Puthli © Tim van Veen

Musik ohne Grenzen
Sieht man sich Line-up, Kurationssystem und Festivalleben an, fällt auf, was das Le Guess Who? nicht ist. Es ist kein Schaulaufen einer prätentiösen, unnahbaren Avantgarde, die sich selbst bierernst nimmt, sondern eine Weltausstellung der Musik mit der richtigen Balance experimenteller und populärer musikalischer Traditionen. Es ist keine vorhersagbare Angelegenheit, was das Programm betrifft, sondern vergibt die Rolle des*der Kurator*in zum Teil an ausgewählte Musiker*innen und Bands, sodass sich die Exotik des Programms nochmal multipliziert. Und es ist keine isolierte Veranstaltung weit weg vom Stadtgefüge, sondern integriert das lokale Umfeld ins Festivalerlebnis. Vor allem aber ist es kein Erlebnis, das eh schon bestätigt, was man über Musik zu wissen und zu meinen glaubte. Diese vier Tage können kaum vergehen ohne stimulierende Erfahrungen, die den geistigen Horizont ein Stück weiter nach außen, in die Welt da draußen verlegen. Nebenbei wird klar, wie unbrauchbar der eurozentrische Begriff »Weltmusik« ist, der alle nicht westliche Musik in einen Topf schmeißt. Es ist als Außenstehende*r befriedigend zu sehen, wie offensichtlich der Mut der Organisatoren Jahr für Jahr belohnt wird. »Isn’t this just the best festival known to humankind?«, wird ein amerikanischer Blog auf einem Festivalplakat zitiert. Man möge dem zustimmen oder nicht, in der engeren Auswahl ist das Le Guess Who?, das »Festival voor grensverleggende muziek«, jedoch allemal.

Links:
https://www.leguesswho.nl/
https://issuu.com/leguesswho/docs/lgw-issuu

Home / Musik / Artikel

Text
Sebastian Deiber

Veröffentlichung
25.11.2019

Schlagwörter

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