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Gesellschaftliche Rhythmen außer Kraft setzen

Die deutsche Regisseurin Claudia Bosse, die 2009 für das Stück Bambiland den Nestroy-Theaterpreis für die beste Off-Produktion verliehen bekam, sorgt mit ihrem 1996 in Berlin gegründeten theatercombinat immer wieder für theatrale Skizzen des Verschwindens.

»Skizzen des Verschwindens«, so lautet auch der Titel einer von ihr und Christina Nägele 2004 publizierten Textsammlung über theatrale Raumproduktionen. Die Arbeiten des theatercombinats schaffen neue, experimentelle Wahrnehmungsräume zwischen Theater, Tanz, Architektur und Bildender Kunst. Schwerpunkte sind die Erforschung theatraler und choreografischer Kommunikations- und Handlungsmodelle, oftmals auch außerhalb etablierter Kunsträume. Vom 8. bis 16. Dezember findet in der 700 Quadratmeter großen Druckereihalle des ehemaligen Kartografischen Institutes in der Krotenthallergasse die Österreichpremiere des theatercombinat-Stückes »vampires of the 21st century oder was also tun?« statt. Dramaturgisch zwischen biografischer Zerstreuung und laut-intellektueller Konzentration pendelnd wird sowohl die bizarr-anmutige Körperlichkeit der vier PerformerInnen unterschiedlichster Generationen und Nationen wie auch die des Klang-Körpers zur symbolischen Abbildung und geisterhaften Projektion unserer fragmentierten, perforierten Gesellschaft herangezogen.

skug: Was kann Theater, was kann Theater nicht?

Claudia Bosse: Ich bin der Meinung, Theater schafft mit Körpern und anderen Medien teilbare Denk-Räume, die es sonst in unserer Gesellschaft kaum noch gibt. Das sind Denk-Räume, die nicht kommunitäre Übereinkünfte sein müssen, sondern die durchaus Haltungs-Räume sind, wo durchaus auch jemand provoziert oder gefragt wird oder sich selbst zu bestimmten Haltungen befragt. Vorgänge, die nicht zurückgezogen in der Rezeption im Privatraum rezipiert stattfinden, sondern in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess mit anderen. Wo man die Körper spürt, wo man Gedanken liest. Wo man einen sich gegenseitig informierenden Vorgang hat. Es gibt kaum einen Raum, wo man so medienübergreifend denken darf. Ich liebe die Theaterprozesse, die Intimität, die Art von Hingabe zwischen den Menschen, unheimlich libidinöse Vertrauens- oder Konfrontationsverhältnisse. Ein eigentümlicher innergesellschaftler-außergesellschaftlicher Raum, der eigene Regeln jeweils schaffen kann und Intensitäten außerhalb von Privatbeziehungen schafft und dort Entdeckungen möglich macht, von sich selbst zu anderen und kollektiven Möglichkeiten, die man aber nicht intellektuell austrägt, sondern durch körperliche Be- und Umsetzungen verbindet.

Eine Art von Körper-Intellekt?

Ja, so in der Art. Es gibt immer das Auftreffen eines inhaltlichen Gegenstandes. Gleichzeitig die Imagination einer Biografie, all die Überzeugungen, die man als Mensch-Container mit sich herumträgt und diese ganzen muskulären, körperlichen Zeichnungen, die Schaffung von Sehnsüchten und Begehrens-Räumen zueinander. Du verstehst ja irgendwann, wenn du Theater machst, dass mit wem du Theater machst, in welchen Strukturen du Theater machst und in welchen Räumen du Theater machst, sind immer die wichtigsten Entscheidungen, wenn du ganz bestimmte Sachen suchst. Wenn du gewisse Bedingungen eingehst, wirst auf bestimmte Dinge niemals kommen, weil die einfach schon per se ausgeschlossen sind.

Deshalb ist dir auch die Ortswahl sehr wichtig, das Ausbrechen aus den klassischen Theaterräumlichkeiten …

… und auch die Weise, wie die Leute aufeinandertreffen, wie gearbeitet wird, wie wir täglich trainieren. Das ist ein normaler Teil der Arbeit, das Körpertraining, bei dem ich auch mitmache. Es ist ein Teil des körperlichen Sich-Miteinander-Befassens. Das hat auch viel damit zu tun, welche körperlichen und intellektuellen Grenzen man sich gegenseitig gibt oder ermöglicht. Ich merke auch immer, wenn ich nicht probe und arbeite, da gibt es ein anderes Denken. Du kannst mit Leuten Intimität teilen. Ich finde Theater-Arbeit deshalb in der Organisation von Arbeitsweisen als einen unglaublich potenziellen Raum. Ich benötige diesen Widerstandsraum mit eigenen Praktiken und Ethiken, um in dieser Gesellschaft nicht draufzugehen. Es gab natürlich auch verschiedene Versuche über die Jahre hinweg. Du setzt Zeitorganisationen, gesellschaftliche Rhythmen außer Kraft: du arbeitest Tag und Nacht, du besetzt öffentliche Räume. Es geht immer um Zeit, wie man Zeit verbringt, wieviel Zeit man verbringt, wie man mit Erschöpfung umgeht.

Um das Erzeugen von Handlungs- und Kommunikationsräumen …

Auch wenn man immer den Anspruch hat, dass die Kommunikation als Informations-Telegramm ankommen soll, bin ich nicht dieser Meinung. Es gibt auch materielle Intelligenzen, die nicht immer sofort übersetzbar sind. Man denkt ja, Kommunikation heißt, ich verstehe, was du sagst und kann das sofort einordnen. Aber ich glaube der Großteil der Kommunikation besteht aus Missverständnissen und Projektionen. Deshalb liebe ich es auch a) in einer Fremdsprache und b) mit einer Fremdsprache zu arbeiten. Weil so eine komplett andere Kommunikation über Missverständnisse und eine andere Grammatik des Handelns und Denkens passiert: wertvolle Chancen, seine eigene Determinationen zu kapieren. Missverständnisse führen prinzipiell zu einem tieferen Verständnis, zu einer tieferen Erkenntnis. Da finde ich Theater als Mittel toll.

Kannst du kurz das Stück »vampires of the 21st century oder was also tun?« beschreiben?

Es gibt vier Darsteller, die zwischen 25 und 60 Jahre alt sind, vier verschiedene Generationen und Nationen. Sie befassen sich mithilfe ihrer eigenen Worte und ihres Körpers in dem Raum zueinander unter Zuhilfenahme von Fragmenten anderer Autoren und Theoretiker mit Fragen zum Thema politisches Handeln und Identität. Wie entsteht Biografie, Sexualität? Was gibt es noch für Handlungsoptionen in einem Umfeld der scheinbaren Aufhebung von Übertrittsgrenzen? Alle Grenzziehungen haben sich aufgelöst. Wie kann man ideal- und global-politisch Haltung beziehen? Es ist eine verrückte Frontalität, die merkwürdig wird, weil sie nicht zentralperspektivisch ist. Sie ist notwendig, um in dieser medialen-akustischen Architektur die Entortungen überhaupt mitzuerleben. Es geht sehr viel um die Versetzungen von Bild und Hören, von Hör- und Sehachsen und den Sprüngen dazwischen. Es arbeitet ganz stark mit Akustik. Es ist fix vorgesehen, wo die Zuschauer sind, die Performer dürfen überall hin.

Und die Koproduktion zwischen Tanzquartier Wien und ORF Radio Symphonieorchester Wien, »Choreografien für Orchesterminiaturen«, wo du als eine von fünf ChoreografInnen involviert bist?

Die Auswahl der ChoreografInnen war eine kuratorische Idee des TQW. Es erwartet einen ein achtzigköpfiges Orchester und Vorschläge von fünf verschiedenen KünstlerInnen, wie sie mit diesem Orchester in diesem Raum, mit dieser großen performativen Präsenz eines achtzig-köpfigen Orchesters, mitsamt diesen Kompositionen im Raum unterschiedlich umgehen. Mein Vorschlag wird mit dem Stück »vampires …« zu tun haben, aber auf einer ganz anderen Weise. Er reagiert auf die Anfrage des TQW mit diesen Orchesterminiaturen und dem Orchester zu arbeiten und über Bewegung nachzudenken. Mich interessiert dieser Orchester-Körper sehr.

Jetzt noch ein paar Assoziationen zu Raumbegriffen. Gibt es einen freien Raum, kann ein Raum frei sein, was ist ein Freiraum?

Im Grund gibt es keinen freien Raum. Weil fast jeder Raum territorial zugeordnet ist. Es gibt fast keinen Fleck auf der Landkarte, der nicht vom Besitzstand einer staatlichen oder privatrechtlichen Zugehörigkeit her definiert ist, wenn man das jetzt vom Territorialbegriff her klären möchte. Oder du definierst Räume um, so kannst du sich gegenseitig funktionalisierende Kooperationen initiieren, wo man unerwartete Aktivitäten freisetzen kann. Oder es gibt von der Stadtregierung oder privatrechtlichen Leuten temporär geschenkte Zwischenzeiten an bestimmten Orten, wie es zum Teil die Donauplatte war (Projekt palais donaustadt 2005), wobei die auch nur mit einem Knebelvertrag einen Freiraum geben konnte. Es gibt solche Freiräume immer nur, wenn jemand aus Interesse die Verantwortung für diese Räume übernimmt. Von dem her ist Freiraum ein sehr romantischer Begriff. Es ist halt immer die Frage auf welcher Ebene du ihn definierst. Ich kann sagen, meine Arbeit ist ein Freiraum, wenn ich bestimmte ökonomische Zwänge außer Acht lasse. Wobei Theater überhaupt kein Freiraum ist. Du kannst Theater zum Freiraum machen, aber Theater per se ist kein Freiraum. Du brauchst immer einen Ort, Ökonomie, eine Art von Übereinkunft, eine bestimmte Art von Kontrakt unter Leuten, damit die was zusammen tun. Innerhalb dieser Kontrakte kann man sich dann Freiräume schaffen, sofern man in unserer Gesellschaft überhaupt von so etwas wie Freiraum sprechen kann.

Was hast du für Assoziationen zu dem Begriff Leer-Raum?

Alles was leer ist, ist von einer bestimmten Funktionalität oder einer bestimmten Bedeutung. Aber es ist immer schon was da. Es kommt nur darauf an, wie man das sieht. Ist ein Raum leer oder einfach nur nicht definiert. Auf einer philosophischen bzw. Wahrnehmungsebene argumentiert existiert Raum nur, weil ich ihn mit meiner Wahrnehmung synthetisiere. Ich kreiere Raum, ich füge Informationen zusammen und habe kulturell gelernt, dass das Raum heißt. Meine Sinnesorgane und mein Wissen verleihen mir diese Gewissheit. Ich sitze hier vor einem Spiegel (Spiegelwand im Café Florianihof), ich sehe den Raum hinter mir; aber eigentlich sehe ich nur ein Bild mit einer Bewegung. Ich höre eine Akustik hinter mir. Deshalb abstrahiere ich eine räumliche Wahrnehmung. Aber ich könnte auch sagen, ich sehe nur ein Bild.

Was verstehst du unter einem Möglichkeitsraum?

Ist ein Raum, wo sich Kräfte sammeln können, die sich trauen, etwas zu denken und zu machen, was erst mal gesellschaftlich nicht vorgesehen ist. Kräfte, die sich gegenseitig Energien geben, sodass es ein Potenzial wird, wo etwas möglich wird, was nicht nur eine Funktion erfüllt. Es hat mit Zeit und Ort zu tun, mit der Außerkraftsetzung von bestimmten Funktionalitäten, die sich einer bestimmten Verwertungsökonomie entziehen. Die etwas frei setzen zu einem Zeitpunkt, wo man die Verwertungsüberführung noch gar nicht wissen kann. Theater ist daher ein Möglichkeitsraum. Du hast irgendetwas vor, du sprichst gewisse Leute an: Lass uns da und daran arbeiten. Was dann da entsteht, was sich dort definiert oder auch nicht definiert ist nur zum Teil vorhersehbar. Das interessiert mich am Theater. Es gibt Interesse, es gibt Fragen, die kann ich teilen und ich treffe auf Menschen und stelle eine Zeit- und Raumbedingung mit Hilfe anderer zur Verfügung. Daraus können Möglichkeiten und in weiterer Folge Imaginationsräume entstehen. Räume, die die Kraft entwickeln, um das, was ich als Normalität ansehe, für Momente rasant in Frage stellen. Dass sich daraus Dynamiken für Veränderungen entwickelt lassen, im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Sinn.

Ein Heraustreten aus diesem normierten und konstruierten Raum …

Kunst ist eine besondere Weise, körperlich, räumlich, materiell zu denken. Eine Art von gegenseitigem Empowerment, das man versucht, mit anderen Regeln als denen, denen man sonst normierend verpflichtet ist, zu konstruieren. Diesen konstruierten Raum, den Politiker und Stadtplaner und Konsumenten entwickelt haben. Wie man auch meint, das Konzept Familie, Beziehung und Sexualität zu konstruieren. Dass man die Möglichkeit hat, für bestimmte Zeiten bestimmte mir gar nicht mehr bewusste Konstruktionslinien über willkürlich andere Kontruktionslinien außer Kraft zu setzen und bemerkbar zu machen. Kunst und Theater sind ja immer ein ganz extrem konstruierter Raum, ein Gewaltakt, wenn auch zum Teil ein spielerischer. Dieses Gewaltige, Autoritäre der Konstruktion muss getan werden, damit es innerhalb vorgegebener Bedingungen ein Differenzraum werden kann. Wie schaffst du den Sprung der Differenz? Was sind die Parameter, mit denen diese Bewusstwerdung und Sensibilisierung erst entstehen kann? Du hast eine Permanenz von Verhältnissen, innerhalb der du es gewöhnt bist, dich zu orientieren und das Aufstellen anderer Gesetzmäßigkeiten ist somit ein Gewaltakt. Es geht um Strategien der Durchsetzung der eigenen Ideen. Symbolisches Kapital, Ethik, Machtverhältnisse, Begehrenslagen, Versprechen sind Linien, über die sich künstlerische Arbeit im Gegensatz zu reiner Lohnarbeit konstituiert.

Leben wir in »verkauften Räumen«?

Sämtliche Arten von Aneignungsvorgängen basieren ausschließlich auf gegenseitiger Instrumentalisierung. Man versteht, dass alles verkaufte Räume sind und dass es einen Freiraum erst mal nicht gibt. Wer tut etwas ohne ein Interesse, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen? Wo ist der Übergang zwischen Tausch und Verkauf? Dass wir in tauschgesellschaftlichen Zusammenhängen leben ist klar, lustig wird dann der Moment, wo sich der reine Tausch auflöst und es um Mehrwert geht. Worüber, über welche Parameter und Interessen erzeugt sich ein Mehrwert? Es gibt einen materiellen Wert, einen Tauschwert, einen ideellen Wert, der über eine symbolische Wertschöpfung erzeugt wird. Das ist ein Mehrwert, der über den Materialwert einer Sache weit hinausgeht, sondern über ein fast religiöses Versprechen funktioniert. Dieses ganze Glaubensverhältnis der Börse ist ja ein purer imaginativer Raum. Das geht ja nur in religiösen Gesellschaften, das Glauben in eine Art von Zukünftigkeit, wie im Christentum als Grundlage für einen Börsen-Crash. Und auf Städte bezogen: die Stadt ist ja entstanden durch Handel. Die Stadt ist per se ein Verkaufsraum. Ein Raum der Organisation des Verkaufs. Das Abziehen vom Land in die Stadt erfolgte aus ökonomischen Gründen. Wenn wir von der Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes sprechen, das ist ja alles nicht neu.

Claudia Bosse / theatercombinat

Österreichpremiere: »vampires of the 21st century oder was also tun?«

8./9./10./11. und 14./15./16. Dezember 2010, 20 Uhr

Kartographisches Institut, Krotenthallergasse 3, 1080 Wien

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Text
Michael Franz Woels

Veröffentlichung
15.12.2010

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