© Lasse Hoile
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Storytelling of Prog Rock: Steven Wilson

Er steckt mittendrin im Zirkus der Progressivität, mit Remastering-Arbeiten etwa zu Yes und King Crimson. Ein skug-Interview mit Steven Wilson, u. a. Gründer, Sänger und Gitarrist von Porcupine Tree, anlässlich seines vierten Solo-Albums »Hand.Cannot.Erase«.

Er ist im anspruchsvollen Rock erfolgreich. Die Chartplatzierungen beweisen es – so etwa in den Top Ten in den deutschen und den Top Twenty in den UK-Charts. Doch mit Zuordnungen zur Kategorie Prog Rock hat Steven Wilson Probleme. »Die ganze Vorstellung von Progressive Rock hält nicht unbe- dingt stand. Es ist nicht möglich, wirklich progressiv zu sein. Das musikalische Vokabular wurde in den letzten zwanzig Jahren etabliert. Die letzte Revolution in der Musik ereignete sich möglicherweise mit der elektronischen Musik und der Entwicklung neuer Soundtechnologien. Bei meiner Musik geht es darum, den Hörer auf eine Reise mitzunehmen. Ich nehme die Musik als Möglichkeit wahr, eine Geschichte sowohl musikalisch als auch lyrisch zu erzählen. Mich interessieren die Definitionen, was Progressive Rock sein könnte, nicht wirklich.« Wilson genießt momentan die Freiheit, die er als Solokünstler in Anspruch nehmen kann. Auf seinen Alben erzählt er Geschichten, wozu er sich von Grenzen des Ausdrucks fernhält. »Ich denke, dass das doch auch Sinn und Zweck von Solokarrieren ist, dass es nun für mich einfacher geworden ist, den Sound zu entwickeln und zu verändern.«

Er konzipiere Alben ähnlich wie einen Roman, sagt Wilson. »Popmusik hat sich gegen diese Vor- stellung immer etwas gewehrt, ein Album wie einen Film oder einen Roman zu verstehen. Die Idee dahinter ist die, dass du eine Geschichte über ein langes Format erzählen kannst. Ein Spielfilm dauert neunzig Minuten oder mehrere Stunden, ein Roman rangiert zwischen hundert bis zu tausend Seiten. Eine große Geschichte wird über die ganze Dauer erzählt. Ich mag das in der Musik. Ich denke, das rührt noch aus meiner Kindheit, da ich damals stets von Literatur und Kino begeistert war. Für mich war das meine Popmusik. Von all diesen drei Künsten werde ich beeinflusst und ich denke, ich werde das in Zukunft noch intensivieren.«

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Musikalisches Vokabular

Die Soloalben des Briten orientieren sich nicht nur textlich an literarischen Vorbildern. Auch musikalisch setzt Wilson Akzente, indem er jede Melodie, Hookline und Klangfläche bewusst als Handlungs- element einsetzt. Sei es im Titeltrack »Hand.Cannot.Erase«, der tragisch und zugleich beschwingt die Story nach dem Zwölf-Minuten-Opener »First Regret – 3 Years Older« auch lyrisch eröffnet. Als Hintergrund diente Wilson die Geschichte um eine achtunddreißigjährige Britin karibischer Herkunft namens Joyce Carol Vincent, die beinahe drei Jahre lang in ihrer Wohnung tot unentdeckt lag. Wilson sah die Dokumentation »Dreams of a Life« zu ihrem Leben und dieses tragische Schicksal hat ihn sehr bewegt.

»Ich denke, dass es sich hierbei um Umstände handelt, die uns viel über die heutige Zeit erzählen kann. Nämlich darüber, wie wir im 21. Jahrhundert leben, wie wir uns mit dem Rest der Welt, mit allen Mitmenschen, verbinden können. Dies hat sich im letzten Jahrhundert dramatisch geändert. Aufgrund des Internets und des Social-Networkings hat sich unser Kommunikationsverhalten fundamental umgestellt. Es ist ziemlich naheliegend geworden, dass man sich nicht mehr aus den eigenen vier Wänden hinausbewegen muss, um trotzdem von allen geachtet und geschätzt zu werden. All diese neuen Techniken sollen unser Leben einfacher gestalten, aber auf eine gewisse Weise entfremdet sie uns voneinander (Wilson nutzt das englische Wort ›disconnect‹; Anm.). Joyce stand symbolisch für dieses Sich-Abkapseln. Sie war eine junge, attraktive und beliebte Frau, die sich dazu entschied, da nicht mitzumachen. Inmitten einer Großstadt mit Millionen von Einwohnern. Dennoch war es ihr möglich, vollständig zu verschwinden. Das erzählt mir so viel über die heutige Welt. Es war einer meiner Ausgangspunkte für das gesamte Konzept und ein Anlass für mich, über Dinge wie Isolation oder Kindheitserinnerungen zu sprechen.«

Bezeichnenderweise benutzt Wilson beim Interview häufig den Terminus »musikalisches Vokabular«. Er schreibt also Songs wie die Kapitel eines Romans. Dazu setzt er jeweils die entsprechenden Sounds ein, die die Story unterstützen. Dennoch bleibt das aktuelle Album eine ziemlich strukturierte Platte mit einer großen Zahl von Analoginstrumenten.

Gerade in einem Stück wie »Ancestral« spannt sich der Bogen in mehr als dreizehn Minuten von elektronischen Loops und Pop-Elementen mit Klargesang bis hin zu metallischem Gitarren- geschredder. Wilson spricht mehrmals von einer Industrial-Atmosphäre – und das bei Stücken, die stark narrativ ausgelegt sind. Der eigenwillige Komponist und Produzent wäre nicht er selbst, würde er sich nicht gegen manche Zeitströmung stemmen. Dabei verliert sich »Ancestral« weder im epischen Prog Rock noch in rein instrumenteller Post-Rock-Schwelgerei. Das wäre so ziemlich zeitgenössisch – doch Wilson fokussiert sich lieber auf die Storyline.

»Das musikalische Vokabular auf der Platte ist ein direktes Resultat der Geschichte, die ich erzählen möchte. Es hängt davon ab, welche Art von Gefühl du ausdrücken willst. ›Hand.Cannot.Erase‹ stellt für mich ziemlich klar eine Geschichte des 21. Jahrhunderts dar. Die Story trifft in den Kern des urbanen Lebens in unserem Jahrhundert. Es geht um das Leben in einer Großstadt, um das Leben in unserer heutigen Welt. Durch die Platte gelangte ich in eine industrialisierte Welt.«

Von Geistern zur Gegenwartsdystopie

Das Vorgängeralbum »The Raven That Refused To Sing« (2013, Kscope) behandelte hingegen eine viktorianische Welt von Geistgestalten und orientierte sich an den phantastischen Erzählungen eines Edgar Allan Poes und von M.R. James. Die Atmosphäre war entsprechend eine andere, wärmere und dadurch auch eher am traditionellen Verständnis des ungeliebten Genrebegriffs Prog Rock orientiert.

Auf »Hand.Cannot.Erase«, das ebenfalls auf Kscope erschienen ist, entspinnt sich dagegen ein zeit- genössisches, wenn auch nicht minder düsteres Bild. Als eine Dystopie möchte es Steven Wilson aber nicht bezeichnen. »Es geht um unsere heutige Zeit. Jedenfalls leben wir in einer Welt, in der die Technologie bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle übernommen hat. Und das nicht unbedingt zum Nutzen der Menschheit. Mich interessieren keine Fantasy und auch kein outer space, sondern der innere Raum, die Realität, die Welt, in der wir leben. Mich interessieren Beziehungen, wenn die Liebe aufhört und doch die Hoffnung weiter besteht. Mich interessieren Dinge, die ich verloren habe, die ich bedauere, mich interessiert Nostalgie. Mich interessiert Isolation. Hobbits waren nie mein Ding [lacht]. Dies ist wiederum ein Grund, warum ich mit einem traditionellen Verständnis von Prog Rock nichts anfangen kann. Mich sprechen so gesehen Industrialbands viel eher an – Dystopien und Entfremdung in unserer Welt faszinieren mich weit mehr.«

Mit solcher Einstellung katapultiert sich der Workaholic mitten in die Gegenwart. Von Retro keine Spur. Sieht man vom wabernden Synthesizer und Gitarrensoli ab. Etwas Spleen sei einem solchen Musiktalent indes zugestanden.

 

Am Samstag, 4. April, spielt Steven Wilson in der Ottakringer Brauerei.

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Text
Dominik Irtenkauf

Veröffentlichung
20.03.2015

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